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Ich ging gut zwanzig Minuten. Dann bog der Korridor nach rechts ab, wurde breiter, und die Lampen leuchteten heller. Ich hörte ein wirres, dumpfes Geräusch. Ob es menschliche Stimmen oder der Lärm von Maschinen war, konnte ich nicht feststellen, jedenfalls fand ich mich einer schweren, undurchsichtigen Tür gegenüber, hinter der das Geräusch erklang.

Ich klopfte, zuerst leise, dann lauter. Plötzlich wurde es still. Dann klirrte etwas, und die Tür öffnete sich langsam. Ich weiß nicht, wer von uns beiden verdutzter war — vor mir stand der kleine Doktor.

»Sie? Hier?« rief er erschrocken. Ich starrte ihn schweigend an und verstand kein Wort von dem, was er sagte, als hätte ich noch nie den Laut einer menschlichen Stimme vernommen. Er wollte wohl, dass ich wieder ging, denn er nahm mich mit seiner papierdünnen Hand am Arm und führte mich zurück in den Korridor. »Erlauben Sie«, sagte ich, »ich wollte… ich dachte, dass sie, ich meine I-330…«

»Warten Sie hier!« fiel er mir ins Wort und verschwand. Endlich, endlich! Sie war hier, ganz in meiner Nähe! Ich stellte mir ihr gelbes Seidenkleid vor, ihr spöttisches Lächeln, ihre gesenkten Wimpern, und meine Lippen bebten, mir zitterten Hände und Knie, und mir kam ein ganz törichter Gedanke: Schwingungen sind Töne, also muss mein Zittern auch klingen. Aber warum höre ich es nicht? Da kam sie. Ihre Augen waren weit geöffnet, und ich versank in ihnen…

»Ich konnte es nicht länger ertragen! Wo waren Sie die ganze Zeit?« Ich starrte sie verzückt an und stammelte wie im Fieber: »Ein Schatten… hinter mir… ich war wie tot — der Schrank… Ihr Freund, der Doktor, sagt, ich hätte eine Seele… unheilbar…«

»Eine Seele! Unheilbar! Du Armer!« antwortete I lachend. Der Fiebertraum war verflogen, überall hörte ich ein helles, spöttisches Lachen, und das tat mir wohl. Der Doktor bog um die Ecke und kam auf uns zu. »Nun?« fragte er sie.

»Kein Grund zur Aufregung. Er ist ganz zufällig hierher gekommen, ich werde Ihnen später alles erzählen. In einer Viertelstunde bin ich wieder da.«

Der Doktor ging. Sie wartete eine Weile. Dumpf schlug die Tür zu. I legte die Arme um meinen Hals und schmiegte sich eng an mich; die Berührung ihres Körpers war wie ein Nadelstich, der tiefer, immer tiefer in mein Herz drang. Wir waren zu zweit, allein… Arm in Arm gingen wir dunkle Stufen hinauf, die kein Ende zu nehmen schienen. Wir schwiegen beide; ich konnte es zwar nicht sehen, aber ich wusste, dass sie mit geschlossenen Augen, zurückgeworfenem Kopf und geöffneten Lippen ging wie ich und dass sie einer leisen Musik lauschte: meinem kaum hörbaren Beben.

Wir gelangten zu einem der vielen Nebenhöfe des Alten Hauses; ich sah einen Zaun und nackte steinerne Rippen und gelbe Zähne eingestürzter Mauern. Sie schlug die Augen auf, sagte: »Übermorgen um 16 Uhr«, und ging. Ist das alles wirklich geschehen? Ich weiß es nicht. Übermorgen werde ich es erfahren. Nur eine einzige, wirkliche Spur ist zurückgeblieben: eine Schramme an den Fingern meiner rechten Hand. Aber heute, als ich beim Integral war, versicherte mir der zweite Konstrukteur, er habe selber gesehen, wie ich mit den Fingern den Schleifring streifte. Vielleicht war es tatsächlich so. Ich weiß es nicht, ich weiß überhaupt nichts mehr.

EINTRAGUNG NR. 18

Übersicht: Im Dickicht der Logik. Wunden und Pflaster. Nie wieder.

Gestern legte ich mich zu Bett und versank sogleich im grundlosen Meer der Träume, wie ein zu schwer beladenes Schiff. Ich fühlte deutlich den Druck der schwankenden grünen Wellen. Dann wurde ich langsam emporgetragen und öffnete auf halbem Weg die Augen: mein Zimmer, kaltes, grünes Morgenlicht. Auf der Spiegeltür meines Schrankes ein schmaler Sonnenstreifen, der mich blendete. Dieses Licht hinderte mich, die gesetzlichen Schlafstunden genau einzuhalten. Vielleicht sollte ich die Schranktür öffnen? Doch ich hatte nicht die Kraft aufzustehen, ich war von einem Spinnennetz gefesselt, und in meinen Augen klebten Spinnweben…

Ich erhob mich trotzdem, öffnete den Schrank — und plötzlich erblickte ich hinter der Spiegeltür I, die gerade ihr Kleid auszog. Ich bin jetzt so sehr an die unwahrscheinlichsten Dinge gewöhnt, dass ich nicht einmal erstaunt war und keine Frage stellte. Ich stieg in den Schrank, schlug die Tür zu und umarmte I, keuchend, blind, gierig. Da drang ein greller Sonnenstrahl durch die Türspalte und fiel wie eine scharfe, blitzende Schneide auf I.s zurückgebogenen, entblößten Hals… Ich erschrak darüber so sehr, dass ich die Nerven verlor und laut schrie. Ich schlug die Augen auf.

Mein Zimmer. Noch immer kaltes, grünes Morgenlicht. Die Sonne spiegelte sich in der Schranktür. Ich lag im Bett. Es war also nur ein Traum. Aber immer noch klopfte mein Herz zum Zerspringen, ich fühlte einen stechenden Schmerz in den Fingerspitzen und in den Knien. Also doch kein Traum. Ich wusste nicht, ob ich schlief oder wachte. Die irrationalen Größen verdrängten alles Dauerhafte, Gewohnte, und statt fester, geschliffener Flächen sah ich ringsum nur raue, zottige Massen. Es dauerte noch lange, bis der Wecker rasselte. Ich liege da, denke nach und gelange zu einem höchst merkwürdigen Ergebnis.

Jeder Gleichung, jeder geometrischen Figur entspricht eine krumme Linie oder ein Körper. Für die irrationalen Formeln, für meine √-1, kennen wir keine entsprechenden Körper, wir haben sie nie gesehen… Aber das Entsetzliche ist, dass diese unsichtbaren Körper existieren, dass sie unbedingt existieren müssen, denn in der Mathematik huschen ja ihre seltsamen, stachligen Schatten, die irrationalen Wurzeln, wie auf einer Leinwand an uns vorbei. Und die Mathematik und der Tod haben noch nie geirrt. Wenn wir aber diese Körper in unserer Welt, in der Welt der Fläche, nicht sehen können, dann müssen sie in einer eigenen, gewaltigen Welt leben, die dahinter liegt…

Ohne das Rasseln des Weckers abzuwarten, sprang ich aus dem Bett und ging im Zimmer auf und ab. Meine Mathematik, die bis jetzt die einzige feste, unerschütterliche Insel in meinem sonderbaren Dasein gewesen war, riss sich los und tanzte auf den Wogen. Bedeutete das nicht, dass diese lächerliche Seele ebenso wirklich war wie meine Stiefel, obgleich ich sie im Augenblick nicht sehen konnte, weil sie hinter der Spiegeltür des Schranks standen? Und wenn meine Stiefel keine Krankheit waren, warum war dann die Seele eine Krankheit?

Ich tappte im Kreis und fand keinen Ausweg aus diesem unheimlichen Dickicht der Logik. Das waren die gleichen unbekannten, schrecklichen Abgründe wie jene hinter der Grünen Mauer, und in ihnen lebten gleichfalls sonderbare, unbegreifliche Wesen. Hinter einer dicken Glasscheibe glaubte ich ein unendlich großes und zugleich unendlich kleines skorpionenhaftes Etwas zu erkennen, dessen Minus-Stachel verborgen und doch die ganze Zeit fühlbar war: die Wurzel aus minus eins… Aber vielleicht war dies nichts anderes als meine Seele, die sich gleich dem Skorpion unserer Vorfahren mit all dem stach, was… Der Wecker rasselte. Es war heller Tag. All diese Gedanken waren nicht tot, waren nicht verschwunden, sondern nur vom Tageslicht verdeckt, so wie die sichtbaren Gegenstände in der Nacht nicht sterben, sondern nur vom Dunkel verhüllt werden. In meinem Kopf wogte ein dünner Nebel. Durch diesen Nebel sah ich lange gläserne Tische und im Takt kauende Kiefer. Irgendwo in der Ferne tickte ein Metronom, und zu dieser gewohnten, zärtlichen Musik zählte ich mechanisch fünfzig — fünfzig Kaubewegungen sind für jeden Bissen gesetzlich vorgeschrieben. Mechanisch den Takt schlagend, ging ich hinunter und trug mich ins Ausgangsbuch ein wie die anderen.

Doch ich fühlte, dass ich von den anderen getrennt, dass ich allein war, von einer weichen, alle Laute dämpfenden Mauer umgeben, und hinter dieser Mauer lag meine Welt. Aber wenn diese Welt nur mir gehört, was hat sie dann in diesen Aufzeichnungen zu suchen? Warum erzähle ich hier von den törichten Träumen, den Schränken und endlosen Korridoren? Ich merke bekümmert, dass ich statt eines ausgewogenen, streng mathematischen Poems zum Preise des Einzigen Staates einen phantastischen Abenteuerroman schreibe. Ach, ich wünschte, es wäre nur ein Roman und nicht mein jetziges Leben, in dem es von unbekannten Größen, von √-1 und von schmählichen Entgleisungen wimmelt.