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Vielleicht ist es doch besser, dass es so gekommen ist, denn Sie, unbekannter Leser, sind im Vergleich zu uns wahrscheinlich die reinsten Kinder (wir sind ja von dem Einzigen Staat erzogen worden und haben daher die höchstmögliche menschliche Entwicklungsstufe erreicht). Und wie die Kinder werden Sie alles Bittere, das ich Ihnen reiche, nur dann ohne Geschrei schlucken, wenn es dick verzuckert ist…

Abends:

Kennen Sie dieses Gefühclass="underline" Man stürmt im Flugzeug himmelan, das Fenster ist offen, der Wind peitscht das Gesicht; es gibt keine Erde mehr, man hat sie vergessen, denn sie ist so fern wie Saturn, Jupiter und Venus? So lebe ich jetzt, der Wind braust in meinen Ohren, ich habe die Erde vergessen, habe die liebe O vergessen. Doch die Erde existiert, früher oder später muss man im Gleitflug zu ihr zurückkehren… ich schließe ja nur die Augen vor dem Tag, an dem ihr Name, O-90, auf meiner Geschlechtstabelle steht… Heute Abend brachte sich die ferne Erde in Erinnerung. Gemäß der Vorschrift des Arztes (ich bin fest entschlossen, gesund zu werden), wanderte ich volle zwei Stunden durch die schnurgeraden, menschenleeren Prospekte. Alle waren in den Auditorien, wie das Gesetz es befahl, nur ich nicht. Ein widernatürliches Bild: stellen Sie sich einen Finger vor, der vom Ganzen, von der Hand, abgeschnitten ist, einen einzelnen Finger, der geduckt mit langen Schritten über die gläsernen Bürgersteige eilt. Dieser Finger war ich. Und das Seltsamste und Unnatürlichste war, dass er nicht die geringste Lust verspürte, zu der Hand zurückzukehren. Er zog es vor, entweder allein zu bleiben, oder — nun, ich habe jetzt nichts mehr zu verbergen — bei jener Frau zu sein, sich an ihre Schulter zu lehnen, ihre Hand zu halten, sich ganz in sie zu verlieren. Als ich nach Hause kam, war die Sonne untergegangen. Auf den gläsernen Mauern, auf der goldenen Spitze des Akkumulatorenturms, in den Stimmen und im Lächeln der vorübergehenden Nummern lag die rosa Asche des Abendlichtes. Ist das nicht merkwürdig: die Strahlen der erlöschenden Sonne haben den gleichen Einfallswinkel wie die Morgensonne, und doch sind sie völlig verschieden voneinander. Die Abendröte ist ganz still, fast ein wenig bitter, die Morgenröte aber klingt und braust. Ich stand vor dem Kontrolltisch im Vestibül. U, die Aufsichtsbeamtin, zog aus einem Haufen von Briefen einen Umschlag heraus und reichte ihn mir. Ich wiederhole: U ist eine sehr anständige Frau, und ich bin gewiss, dass sie es gut mit mir meint. Trotzdem habe ich jedes Mal ein unheimliches Gefühl, wenn ich ihre kiemenähnlichen Hängebacken sehe.

U hielt mir mit ihrer knochigen Hand den Brief hin und seufzte tief. Doch dieser Seufzer streifte den Vorhang, der mich von der Außenwelt trennt, nur ganz leicht, denn ich dachte allein an das Stück Papier in meinen zitternden Fingern. Gewiss war es ein Brief von I! U seufzte zum zweiten Mal, so laut, dass ich verwundert aufblickte. Schamhaft schlug sie die Augen nieder und verzog die Hängebacken zu einem süßen, betörenden Lächeln. Dann sagte sie:

»Ach, Sie Ärmster —« und deutete dabei auf den Brief. Sie kannte natürlich seinen Inhalt, sie war ja verpflichtet, alles zu zensieren. »Wieso? Ich bin wirklich…«

»Nein, nein, mein Lieber, ich weiß das besser als Sie selber. Ich beobachte Sie schon lange und sehe, dass Sie jemanden brauchen, der Arm in Arm mit Ihnen durchs Leben geht, jemanden, der das Leben kennt…« Ihr Lächeln legte sich wie ein Pflaster auf die Wunden, die mir dieser Brief in meiner Hand gleich schlagen würde. Schließlich sagte sie leise:

»Ich will mir überlegen, wie ich Ihnen helfen kann. Seien Sie ganz ruhig, wenn ich genug Kraft in mir fühle, dann werde ich… nein, nein, ich muss das alles noch genau überlegen.«

Großer Wohltäter! Ist das wirklich mein Schicksal? Will sie damit sagen, dass sie ein Auge auf mich geworfen hat?

Alles verschwamm mir vor den Augen, ich sah tausend Sinusoide, der Brief begann zu tanzen. Ich trat näher zur Wand, zum Licht. Die Sonne erlosch, und die dunkelrote Asche auf mir, auf dem Fußboden und auf dem Brief in meinen Händen verfärbte sich grau. Ich riss den Umschlag auf, warf einen Blick auf die Unterschrift, und da öffnete sich die tiefe Wunde — der Brief war nicht von I, sondern von O! In der unteren rechten Ecke sah ich einen blassblauen Klecks, der von einem Wassertropfen kam. Ich kann Kleckse nicht ausstehen, ganz gleich, woher sie kommen, ob von Tinte oder von… Früher war mir ein solcher Fleck nur unangenehm. Warum kommt er mir jetzt wie eine Wolke vor, warum verdüstert er alles? Oder ist das wieder die Seele? O schrieb:

Ich verstehe mich zwar nicht aufs Brief schreiben, aber das ist gleich. Sie wissen jedenfalls, dass ich nicht einen Tag, nicht eine Stunde, nicht einen Frühling ohne Sie leben kann. R-13 ist für mich nur… nun, das ist unwichtig für Sie. Ich bin ihm jedoch sehr dankbar, denn ich weiß nicht, wie ich die letzten Tage ohne ihn hätte überstehen können. In diesen Tagen und Nächten bin ich um zehn, zwanzig Jahre gealtert. Mir war, als wäre mein Zimmer nicht quadratisch, sondern rund, ich tappte unablässig im Kreis und fände nirgends eine Tür.

Ich kann nicht ohne Sie leben — weil ich Sie liebe. Ich weiß, dass Sie jetzt niemanden in der Welt brauchen außer ihr, der anderen, und gerade weil ich Sie liebe, muss ich auf Sie verzichten. In zwei, drei Tagen, wenn ich aus den Fetzen meines Ichs etwas zusammengeflickt habe, das der früheren O ungefähr gleicht, will ich mein Abonnement auf Sie kündigen, dann wird Ihnen leichter ums Herz sein. Ich werde nie wiederkommen. Verzeihen Sie mir. O.

Das war natürlich das beste, sie hatte recht. Aber warum, warum…

EINTRAGUNG NR. 19

Übersicht: Eine unendlich kleine Größe dritter Ordnung. Die gerunzelte Stirn. Blick über das Geländer.

In dem unheimlichen Korridor mit den flackernden Lampen — nein, nicht dort, sondern später, als ich mit ihr in einem versteckten Winkel im Hof des Alten Hauses stand, hatte sie gesagt: »Übermorgen.« Dieses »Übermorgen« ist heute, und alles hat Flügel. Der Tag fliegt, und auch unsere Integral wird sich bald emporschwingen; der Raketenmotor ist eingebaut; heute haben wir ihn ausprobiert. Welch herrliche, gewaltige Salven! Jede einzelne empfand ich als Salut für mein Heute.

Bei der ersten Explosion standen ungefähr zehn schlafmützige Nummern vor dem Auspuff — und es blieb von ihnen nichts übrig als ein Häufchen Asche. Zu meiner Genugtuung kann ich hier niederschreiben, dass dieser Vorfall unsere Arbeit nicht im geringsten aufhielt. Keiner von uns zuckte auch nur mit der Wimper, wir und unsere Maschinen setzten unsere geraden und kreisenden Bewegungen so exakt fort, als wäre nichts geschehen. Zehn Nummern — das ist der hundertmillionste Teil der Masse des Einzigen Staates, also eine unendlich kleine Größe dritter Ordnung. Unsere Ahnen kannten ein arithmetisch-analphabetisches Mitleid, das wir lächerlich finden.

Übrigens kommt mir auch etwas anderes lächerlich vor, dass ich nämlich wegen eines armseligen grauen Flecks, wegen eines Kleckses gestern so nachdenklich geworden bin und das in meinen Aufzeichnungen erwähnt habe. Auch das kommt eben von der »Aufweichung der Oberfläche«, die diamantenhart sein muss wie unsere gläsernen Mauern.

16 Uhr. Ich ging nicht zum Gemeinschaftsspaziergang. Wer weiß, vielleicht fiel es ihr ein, gerade jetzt zu kommen… Ich war fast allein im Hause. Durch die sonnenfunkelnden Wände konnte ich die lange Flucht der in der Luft schwebenden leeren Zimmer rechts, links und unter mir überblicken. Ein dichter, grauer Schatten kam die bläulich schimmernde Treppe herauf, deren Stufen im hellen Sonnenlicht kaum sichtbar waren. Ich hörte Schritte und sah, wie U an meiner Tür vorbeiging, mir zulächelte und dann die andere Treppe hinunterlief. Die Klappe des Numerators fiel. In dem schmalen weißen Feld erblickte ich eine mir unbekannte männliche Nummer (sie begann mit einem Konsonanten, daher wusste ich, dass es ein Mann war). Der Lift surrte, und die Tür wurde zugeschlagen. Vor mir finstere Brauen und eine vorspringende Stirn, die einem tief ins Gesicht gedrückten Hut glich, so dass man kaum die Augen sehen konnte. »Hier ist ein Brief für Sie«, sagte der Fremde. »Von ihr. Sie bittet Sie, alles genauso zu machen, wie sie Ihnen schreibt.«