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Es mag sein, dass die »Entladung« mich endlich von der mich quälenden Seele geheilt hat und dass ich nun wieder so bin wie wir alle. Wenigstens sehe ich jetzt im Geist O auf den Stufen des Würfels, sehe sie unter der Gasglocke — und empfinde dabei nicht den geringsten Schmerz. Es ist mir auch gleichgültig, ob sie im Operationssaal meinen Namen angibt, in meiner letzten Minute werde ich dankbar und ergeben die strafende Hand des Wohltäters küssen. Dem Einzigen Staat gegenüber habe ich das Recht, eine Strafe zu erleiden, und dieses Recht lasse ich mir keinesfalls nehmen. Keine von uns Nummern kann und darf es wagen, auf dieses ihr einziges und darum um so teures Recht zu verzichten… … Leise, metallisch-klar hämmerten meine Gedanken; irgendein Flugzeug trug mich in die blauen Höhen meiner geliebten Abstraktionen empor. In der reinen Höhenluft zerplatzten meine Betrachtungen über dieses »Recht«, und ich erkannte, dass es nur Reminiszenzen an lächerliche Vorurteile unserer Ahnen, an ihre Rechtsideen waren.

Es gibt Ideen, die einem irdenen Topf gleichen, und es gibt Ideen, die für die Ewigkeit aus Gold oder aus unserem kostbaren Glas gegossen sind. Um das Material einer Idee zu bestimmen, braucht man es nur mit einer stark wirkenden Säure zu beträufeln. Eine dieser Säuren war unseren Vorfahren bereits bekannt, die reductio ad finem. Ich glaube, so nannte man das damals; doch sie fürchteten dieses Gift, sie wollten irgend etwas vor sich sehen, ganz gleich, was es war, sie zogen einen Spielzeughimmel dem blauen Nichts vor. Wir aber — dem Wohltäter sei Dank — sind erwachsen, brauchen kein Spielzeug. Nehmen wir an, man würde die Idee Wahrheit mit Säure benetzen. Schon in alten Zeiten wussten die größten Geister, dass die Quelle der Wahrheit die Macht, die Wahrheit also eine Funktion der Macht ist. Oder stellen wir uns zwei Waagschalen vor: auf der einen liegt ein Gramm, auf der anderen eine Tonne, auf der einen das Ich, auf der anderen Wir, der Einzige Staat. Dem Ich irgendwelche Rechte dem Einzigen Staat gegenüber einzuräumen, wäre das gleiche, wie wenn man behaupten wollte, dass ein Gramm eine Tonne aufwiegen könne. Daraus ergibt sich der Schluss: Die Tonne hat Rechte, das Gramm Pflichten, und der einzige natürliche Weg von der Nichtigkeit zur Größe ist: Vergiss, dass du nur ein Gramm bist, und fühle dich als millionsten Teil einer Tonne. Ihr, üppige, rotwangige Venusbewohner, und ihr, Uranusmenschen, rußig wie Schmiede — ich höre in meiner blauen Stille euer Murren. Doch wisset: alles Erhabene ist einfach, wisset: unerschütterlich und ewig sind nur die vier Grundregeln der Arithmetik. Und nur die Moral wird erhaben, unerschütterlich und ewig bleiben, die sich auf diese vier Regeln gründet. Das ist die letzte Weisheit, die Spitze jener Pyramide, welche die Menschen rot vor Anstrengung, ächzend und stöhnend jahrhundertelang zu erklimmen versuchten. Und wenn man von diesem Gipfel in die Tiefe blickt, wo gleich nichtigen Würmern noch etwas wimmelt, das von unseren unzivilisierten Ahnen her in uns fortlebt — wenn man von diesem Gipfel hinabblickt, sind alle gleich: O, die ungesetzliche Mutter, der Mörder und jener Wahnsinnige, der sich vermaß, den Einzigen Staat mit seinen Versen zu schmähen. Sie alle erwartet das gleiche Gericht: ein vorzeitiger Tod. Das ist nichts anderes als jene göttliche Gerechtigkeit, von der die Steinhausmenschen, von dem rosigen, naiven Morgenschein der Geschichte erleuchtet, phantasierten: ihr Gott — Schmach und Schande über die Heilige Kirche — strafte, indem er mordete.

Nun, ihr Uranusbewohner, düster und schwarz wie die alten Spanier, die sich so gut darauf verstanden, Menschen auf Scheiterhaufen zu verbrennen — was schweigt ihr? Ich glaube, ihr seid auf meiner Seite. Doch ich höre die rosigen Venusbewohner etwas von Foltern, Hinrichtungen, von der Rückkehr zu barbarischen Zuständen murmeln. — Ihr tut mir leid, meine Lieben, ihr seid nicht fähig, philosophisch-mathematisch zu denken. Die Geschichte der Menschheit bewegt sich in Kreisen nach oben, genau wie ein Flugzeug. Es gibt verschiedene solcher Kreise, goldene und blutige, aber sie sind alle in 360 Grad eingeteilt. Und nun geht es vom Nullpunkt vorwärts: 10, 20, 200, 360 Grad — und dann wieder zu ihm zurück. Ja, wir sind zum Nullpunkt zurückgekehrt! Aber für meinen mathematisch geschulten Verstand ist es völlig klar, dass dieser Nullpunkt etwas gänzlich anderes, Neues ist. Wir sind von Null nach rechts gegangen und kehren von links nach Null zurück, und deshalb haben wir statt plus null minus null. Verstehen Sie?

Ich sehe diese Null als ein riesiges, stummes, messerscharfes Felsenriff. In wilder, undurchdringlicher Finsternis stießen wir mit angehaltenem Atem in unserem Boot von der schwarzen Nachtseite der Klippe Null ab. Jahrhundertelang trieben wir, gleich Kolumbus, dahin, wir umfuhren die ganze Erde, und endlich — hurra! Salut! Vor uns lag die andere, bisher unbekannte Seite der Nullklippe im kalten Nordlicht des Einzigen Staates, ein blauer Klumpen, Funken eines Regenbogens, Sonne — Hunderte von Sonnen, Millionen Regenbogen… Was hat es schon zu bedeuten, dass nur ein messerdünner Grat uns von der anderen, der schwarzen Seite der Nullklippe trennt? Das Messer ist das Dauerhafteste, Unsterblichste und Genialste von allem, was der Mensch geschaffen hat. Das Messer war eine Guillotine, das Messer ist ein Universalmittel zur Lösung aller Knoten, und der Weg der Paradoxe führt auf des Messers Schneide entlang — der einzig würdige Weg eines furchtlosen Geistes.

EINTRAGUNG NR. 21

Übersicht: Die Pflicht des Autors. Das Eis schwillt an. Die schwierigste Form der Liebe.

Gestern war ihr Tag, aber sie kam nicht, sie schickte nur ein paar unverständliche Zeilen, die nichts erklärten. Doch ich war ruhig, völlig ruhig. Wenn ich tat, wie sie mich in ihrem Brief geheißen, wenn ich ihr Billett zum Hausmeister brachte und hinter geschlossenen Vorhängen allein in meinem Zimmer saß, so geschah das selbstverständlich nicht deshalb, weil ich zu schwach war, mich ihrem Willen zu widersetzen. Lächerlich! Es war einfach so: Die Vorhänge isolierten mich von einem gewissen Lächeln, das sich wie ein heilendes Pflaster auf meine Wunden legen wollte, und so konnte ich diese Seiten ungestört niederschreiben; das war das erste. Und das zweite: Ich fürchtete wohl, in I den Schlüssel zu allen Geheimnissen zu verlieren (die Geschichte mit dem Schrank, meine Ohnmacht usw.). Aber ich fühle mich verpflichtet, diese Rätsel zu lösen, allein schon darum, weil ich der Autor dieser Aufzeichnungen bin, ganz abgesehen davon, dass alles Unbekannte dem Menschen von Natur aus zuwider ist; der homo sapiens ist nur dann ein Mensch im vollen Sinne des Wortes, wenn es in seiner Grammatik keine Fragezeichen, sondern nur Ausrufzeichen, Punkte und Kommata gibt. Um meiner Pflicht als Autor zu genügen, nahm ich heute um 16 Uhr ein Flugzeug und flog zum Alten Haus. Ich hatte starken Gegenwind. Die Maschine kämpfte sich mühsam durch das Luftdickicht, durchsichtige Zweige schlugen mir pfeifend ins Gesicht. Die Stadt unter mir schien aus blauen Eisblöcken zu bestehen. Da — eine Wolke, ein schneller, schräger Schatten — das Eis verfärbte sich bleigrau und schwoll an wie im Frühling, wenn man am Ufer steht und darauf wartet, dass im nächsten Augenblick alles kracht, zerspringt, sich losreißt, dahintreibt. Eine Minute nach der anderen vergeht, doch das Eis bleibt starr, und in einem selbst schwillt etwas an, immer rascher, immer ungestümer pocht das Herz… (Übrigens, warum schreibe ich eigentlich von solchen Dingen, und woher kommen diese seltsamen Gefühle? Denn es gibt ja keinen Eisbrecher, der das reine, feste Kristall unseres Lebens brechen könnte…) Am Tor des Alten Hauses war kein Mensch zu sehen.