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EINTRAGUNG NR. 22

Übersicht: Erstarrte Wogen. Alles wird vollkommen. Ich bin eine Mikrobe.

Stellen Sie sich vor, Sie ständen an einem Ufer: die Wellen steigen langsam, und plötzlich verharren sie still, erkalten, erstarren. Genauso schrecklich und unnatürlich war, was bei unserem gesetzlich vorgeschriebenen Spaziergang geschah:

Die Reihen der Nummern stockten, gerieten in Verwirrung und blieben stehen.

Etwas Ähnliches hat sich zum letzten Mal vor 119 Jahren ereignet, als ein Meteor zischend und rauchend vom Himmel herabstürzte und mitten unter die Spaziergänger fiel.

Wir marschierten wie immer, gleich einer Armee, so, wie sie auf assyrischen Reliefs dargestellt ist: Tausend Köpfe, zwei Beine, zwei emporgestreckte Arme. Vom Ende des Prospekts, wo der Akkumulatorenturm drohend summte, kam uns ein Viereck entgegen: an beiden Seiten, vorn und hinten Wachen, in der Mitte drei Männer, denen man das goldene Abzeichen mit der Nummer abgenommen hatte — alles erschreckend klar zu deuten. Das riesige Zifferblatt am Turm war wie ein Gesicht, es neigte sich aus den Wolken nieder, spie die Sekunden nach unten und wartete gleichgültig. Und da, um 13 Uhr 6 Minuten, geriet das Viereck in Verwirrung. Es geschah ganz in meiner Nähe, und ich erinnere mich deutlich an einen langen, dünnen Hals und an Schläfen, die von einem Geflecht blauer Adern durchzogen waren, wie Flüsse auf der Karte einer kleinen, unbekannten Welt, und diese unbekannte Welt war ein junger Mann. Er hatte offenbar jemanden unter den Spaziergängern entdeckt, denn er reckte den Hals und blieb stehen. Eine der Wachen schlug ihn mit der elektrischen Knute so heftig, dass blaue Funken sprühten. Er wimmerte leise wie ein junger Hund. Und dann alle zwei Sekunden: Schlag — Wimmern — Schlag — Wimmern.

Wir gingen ruhig weiter, und als ich die anmutigen Zickzacklinien der Funken sah, dachte ich: Alles in der menschlichen Gesellschaft wird unendlich vollkommen werden, und so muss es auch sein. Welch hässliche Waffe war die Knute unserer Ahnen, und wie viel Schönheit… In diesem Augenblick löste sich eine schlanke, biegsame Frauengestalt aus unserer Gruppe und warf sich mit dem Schrei: »Genug! Rührt ihn nicht an!« dem Viereck entgegen. Das wirkte wie das Meteor vor 119 Jahren: Der ganze Spaziergang stockte, und unsere Reihen wurden zu grauen Wogenkämmen, die der Frost jäh hatte erstarren lassen.

Sekundenlang blickte ich diese Frau mit dem gleichen Entsetzen an wie alle anderen: sie war keine Nummer mehr, sie war ein Mensch, sie existierte nur noch als metaphysische Substanz einer Beleidigung, drehte sich um und wiegte sich dabei leicht in den Hüften — und plötzlich wurde mir klar, dass ich diesen gertenschlanken, biegsamen Körper kannte — meine Augen, meine Lippen, meine Hände kannten ihn! In diesem Augenblick war ich jedenfalls fest davon überzeugt! Zwei Mann von der Wache traten ihr entgegen. Gleich würden sie zuschlagen, ihre erhobenen Knuten spiegelten sich im klaren Glas des Pflasters… Mir stand das Herz still, und ohne lange zu überlegen, stürzte ich hinzu…

Ich fühlte, wie Tausende von Augenpaaren erschrocken auf mir ruhten, doch gerade das gab dem Wilden mit den behaarten Händen, der sich von mir losriss, noch mehr verzweifelte Kraft, und er lief um so schneller. Noch zwei Schritte — da wandte sie sich um. Ein sommersprossiges Gesicht, rötliche Augenbrauen… Sie war es nicht! Es war nicht I!

Eine tolle Freude stieg in mir auf. Ich wollte laut schreien: »Packt sie! Haltet sie!« oder etwas Ähnliches, doch ich brachte keinen Ton heraus. Schon legte sich eine schwere Hand auf meine Schulter, und man führte mich ab. Ich versuchte, der Wache klarzumachen… »Hören Sie! Begreifen Sie doch! Ich dachte, dass…« Aber wie sollte ich ihnen erklären, was in mir vorging, meine Krankheit erklären, die ich in diesen Aufzeichnungen beschrieben habe! Ich verstummte und folgte ihnen ergeben… Ein Blatt, das ein jäher Windstoß vom Baum reißt, sinkt gehorsam zur Erde, aber im Fallen dreht es sich verzweifelt, klammert sich an jeden vertrauten Zweig, an jedes Ästchen — so klammerte ich mich hilfesuchend an jeden der schweigenden Kugelköpfe, an das durchsichtige Eis der Mauern, an die goldene Spitze des Akkumulatorenturms.

Genau in dem Augenblick, da der Vorhang des Schweigens mich für immer von dieser herrlichen Welt zu trennen drohte, tauchte in der Nähe ein bekanntes Gesicht auf. Der Mann fuchtelte erregt mit seinen rosigen Händen, und dann sagte eine vertraute Stimme:

»Ich halte es für meine Pflicht, zu bezeugen, dass D-503 krank und nicht fähig ist, seine Gefühle zu kontrollieren. Ich bin überzeugt, dass er sich von einem ganz natürlichen Unwillen hat hinreißen lassen…«

»Ja, ja«, unterbrach ich ihn. »Ich hab’ sogar geschrieen: Haltet sie!«

Hinter mir sagte jemand: »Gar nichts haben Sie geschrieen!«

»Aber ich wollte schreien — ich schwöre beim Wohltäter, dass ich schreien wollte.«

S warf mir einen kalten, durchdringenden Blick zu. Ich weiß nicht, ob er tief in meinem Inneren sah, dass ich beinahe die Wahrheit sprach, oder ob er mich nur noch für eine Weile schonen wollte, jedenfalls schrieb er ein paar Worte auf einen Zettel, gab ihn einem der Wachleute — und ich war frei, war wieder in die geordneten, endlosen assyrischen Reihen eingegliedert.

Das sommersprossige Gesicht und die blaugeäderten Schläfen verschwanden um die Straßenecke — für immer. Wir marschierten weiter, ein Körper mit Millionen Köpfen, und in jedem von uns war jene stille, demütige Freude, in der wahrscheinlich Atome, Moleküle und Phagozyten leben. In der alten Welt wussten die Christen als einzige unserer wenn auch sehr unvollkommenen Vorgänger, dass Demut eine Tugend, Stolz hingegen ein Laster ist, dass Wir von Gott stammt und Ich vom Teufel. Ich marschierte im gleichen Schritt mit den anderen und war trotzdem von ihnen getrennt. Dieser Zwischenfall hatte mich so erregt, dass ich noch am ganzen Leibe zitterte. Ich fühlte mich. Alle jene, die sich fühlen, sind sich ihrer Individualität bewusst. Doch nur das entzündete Auge, der verletzte Finger, der kranke Zahn machen sich bemerkbar, das gesunde Auge, der gesunde Finger, der gesunde Zahn scheinen nicht vorhanden zu sein. Man ist also bestimmt krank, wenn man sich der eigenen Persönlichkeit bewusst wird!

Ich bin vielleicht schon keine Phagozyte mehr, die eifrig die zerstörenden Mikroben verschlingt (solche wie der junge Mann mit den blauen Adern und die sommersprossige Frau), ich bin selber eine Mikrobe, und vielleicht gibt es bereits Tausende unter uns, die wie ich nur so tun, als wären sie Phagozyten.

Was aber, wenn dieser heutige an sich recht unbedeutende Zwischenfall nur ein Anfang ist, nur der erste Meteor eines ganzen Hagels glühender Steine, der aus der Unendlichkeit auf unser Paradies herabstürzt?

EINTRAGUNG NR. 23

Übersicht: Blumen. Die Auflösung des Kristalls. Wenn…

Man sagt, es gäbe Blumen, die nur alle hundert Jahre blühen. Warum sollte es dann nicht auch solche geben, die nur einmal in tausend Jahren oder gar in zehntausend Jahren blühen? Vielleicht haben wir nur deshalb nichts davon gewusst, weil dieses Einmal-in-tausend-Jahren gerade heute ist.

Trunken vor Glück ging ich ins Vestibül hinunter, und vor meinen Augen öffneten sich überall tausendjährige Knospen und erblühten — Sessel, Stiefel, goldene Abzeichen, elektrische Lampen, dunkle, sanfte Augen, die blitzenden Glasstäbe am Treppengeländer, ein buntes Tuch, das jemand auf der Treppe verloren hatte, der kleine Tisch in der Pförtnerloge, die zarten rotgesprenkelten Wangen von U. Alles war ungewöhnlich, neu, zart, rosig, frisch.