U nahm mein rosa Billett entgegen; über ihrem Kopf — ich blickte durch die durchsichtige Glasmauer — da schwebte der Mond an einem unsichtbaren Zweig, blau und duftend.
Ich hob die Hand und sagte zu U: »Der Mond — sehen Sie doch!«
Sie schaute zuerst auf mich, dann auf das Billett und zog mit einer bezaubernd-verschämten Geste den Rock über die Knie.
»Sie sehen heute anomal und krank aus, mein Lieber. Anomalität und Krankheit sind ein und dasselbe. Sie richten sich zugrunde, aber niemand sagt Ihnen das, niemand.«
Mit diesem »niemand« ist natürlich die Nummer auf dem Billett gemeint: I-330. Liebe, gute U! Sie haben natürlich recht, ich bin unvernünftig und krank, ich habe eine Seele, ich bin eine Mikrobe. Aber ist denn das Blühen keine Krankheit? Schmerzt es nicht, wenn die Knospen aufbrechen? Meinen Sie nicht auch, dass das Spermatozoid die entsetzlichste aller Mikroben ist?
Ich ging auf mein Zimmer. In der flachen Schale des Sessels saß I. Ich warf mich ihr zu Füßen, umschlang ihre Knie und legte meinen Kopf in ihren Schoß. Wir schwiegen. Stille. Mein Herz klopfte zum Zerspringen. Mir war, als wäre ich ein Kristall, ich löste mich in I auf. Ich fühlte, wie die geschliffenen Facetten, die mich daran hinderten mich auszudehnen, schmolzen, und ich verschwand in ihrem Schoß, ich wurde immer winziger — und zugleich immer breiter, größer, unermesslicher. Denn sie war nicht mehr I, sie war das Weltall. Eine Sekunde lang waren wir allein, ich und dieser von Freude erfüllte Sessel neben meinem Bett — und das strahlende Lächeln der Alten vom Alten Haus, das wilde Dickicht hinter der Grünen Mauer, silbrige Ruinen auf schwarzem Grund, die vor sich hin träumten wie jene Alte, und eine Tür, die in unendlicher Ferne zuschlug — all das war in mir und hörte meinen Pulsschlag…
Mit wirren, unzusammenhängenden Sätzen versuchte ich ihr zu berichten, dass ich ein Kristall sei, dass eine Tür in mir zuschlage; doch was ich sagte, war so widersinnig, dass ich beschämt innehielt und dann murmelte: »Verzeih mir Liebste. Ich weiß wirklich nicht, weshalb ich so dummes Zeug schwatze…«
»Warum hältst du dieses dumme Zeug für etwas Schlechtes? Wenn man die Dummheiten der Menschen jahrhundertelang so hegte und pflegte wie die Vernunft, dann würde man vielleicht etwas sehr Kostbares erhalten.«
»Ja…« (Ich glaubte, dass sie recht hatte. Wie hätte sie in diesem Augenblick unrecht haben können?) »Und um deiner Dummheit willen, um dessentwillen, was du gestern auf dem Spaziergang getan hast, liebe ich dich noch mehr, viel mehr als zuvor.«
»Aber warum hast du mich so gequält, warum bist du nicht gekommen, warum hast du mir ein Billett geschickt und mich gezwungen…«
»Vielleicht wollte ich dich auf die Probe stellen, vielleicht musste ich die Gewissheit haben, dass du alles tust, was ich will, dass du mir ganz gehörst.«
»Ja, ganz!«
Sie nahm mein Gesicht in ihre Hände und zog meinen Kopf zu sich empor.
»Nun, wie steht es mit den Pflichten, die Sie wie jede anständige Nummer haben?« Die weißen, scharfen Zähne blitzten.
Ja, die Pflichten… Ich blätterte im Geist die letzten Seiten meines Manuskripts durch: tatsächlich, nichts steht darin von meinen Pflichten…
Ich schwieg. Ich lächelte triumphierend (und wahrscheinlich töricht) und blickte ihr in die Augen, in denen ich mein Spiegelbild sah: winzig klein, kaum sichtbar, für immer in dieses dunkle Gefängnis eingeschlossen. Dann spürte ich ihre weichen, brennenden Lippen auf meinem Mund, fühlte den süßen Schmerz des Blühens. In jeder Nummer ist ein unsichtbares, leise tickendes Metronom eingebaut, so dass wir, ohne auf die Uhr zu sehen, die Zeit auf fünf Minuten genau bestimmen können. Doch an diesem Abend war das Metronom in mir stehen geblieben, ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, und zog erschrocken mein Abzeichen mit der Uhr unter dem Kopfkissen hervor…
Dem Wohltäter sei Dank! Noch zwanzig Minuten. Die Minuten waren lächerlich kurz, sie entflohen unaufhaltsam, und ich musste ihr doch so viel erzählen, alles, alles erzählen: von O.s Brief, von jenem schrecklichen Abend, als ich ein Kind mit ihr zeugte, von meiner Kindheit (warum, weiß ich nicht), von unserem Mathematiklehrer Plapa, von der Wurzel aus minus eins und wie ich zum ersten Mal in meinem Leben am Tag der Einstimmigkeit teilnahm und bitterlich weinte, weil ich einen Tintenklecks auf der Uniform hatte — und das an diesem Feiertag! I richtete sich auf und stützte den Kopf in die Hand. »Vielleicht werde ich an diesem Tag…« Sie brach mitten im Satz ab und runzelte die dunklen Brauen. Dann nahm sie meine Hand und drückte sie fest. »Sag, wirst du mich nie vergessen, wirst du immer an mich denken?«
»Warum fragst du mich das? Was meinst du damit? I, Liebste!«
Sie antwortete nicht, und ihre Augen blickten an mir vorbei in weite Fernen. Da hörte ich plötzlich, wie der Wind mit Riesenflügeln gegen das Haus schlug (er hatte es die ganze Zeit getan, aber ich merkte es erst jetzt), und ich musste an das durchdringende Geschrei der Vögel über der Grünen Mauer denken.
I machte eine Kopfbewegung, als wollte sie etwas von sich abschütteln. Ein letztes Mal berührte sie mich eine Sekunde lang mit dem ganzen Körper, wie ein Flugzeug federnd die Erde berührt, bevor es landet. »Gib mir meine Strümpfe, schnell!«
Die Strümpfe lagen auf meinem Manuskript (Seite 193) auf dem Schreibtisch. In der Eile stieß ich dagegen, die einzelnen Blätter gerieten durcheinander, und ich konnte sie nicht ordnen, wie sehr ich mich auch bemühte. Nun, was machte es schon! Eine richtige Ordnung wäre ja doch nicht mehr zustande gekommen, denn es blieben so viele Strudel, Abgründe und unbekannte Größen zurück. »Ich kann das nicht ertragen«, sagte ich. »Du bist hier, neben mir, und scheinst doch so fern, als wärst du durch eine undurchsichtige Mauer von mir getrennt. Ich höre Geräusche und Stimmen hinter der Mauer und kann die Worte nicht verstehen; ich weiß nicht, was dort ist. Ich halte das nicht länger aus. Du verschweigst mir die ganze Zeit etwas, du hast mir nie gesagt, wohin ich damals im Alten Haus geraten war, was das für Korridore sind, und warum der kleine Doktor… Oder ist alles gar nicht geschehen?«
I legte mir die Hand auf die Schulter und blickte mir tief in die Augen: »Möchtest du alles wissen?«
»Ja, ich will es wissen, ich muss es wissen.«
»Und du hast keine Angst, mir überallhin zu folgen, bis zum Ende, ganz gleich, wohin ich dich führen werde?«
»Nein, ich habe keine Angst. Ich folge dir, wohin du mich auch führst.«
»Gut. Ich verspreche dir, wenn der Feiertag vorbei ist, wenn erst… Übrigens, da fällt mir ein — wie weit bist du eigentlich mit dem Integral? Ist er bald fertig? Ich hätte fast vergessen, dich danach zu fragen.«
»Was bedeutet dieses ›Wenn erst…‹?« Sie stand schon an der Tür. »Du wirst es sehen…« Ich war wieder allein. Alles, was von ihr blieb, war ein feiner Duft, der mich an den trockenen Blütenstaub aus dem Land jenseits der Mauer erinnerte. Und noch etwas blieb: quälende Fragen, die sich wie spitze Haken in mich bohrten… Warum hatte sie auf einmal vom Integral gesprochen?
EINTRAGUNG NR. 24
Ich bin wie eine Maschine, die auf eine zu große Umdrehungszahl eingestellt worden ist. Die Lager sind heißgelaufen, noch eine Minute, und das geschmolzene Metall wird tröpfeln, alles wird sich in Nichts auflösen. Schnell, kaltes Wasser her, Logik! Ich begieße die Maschine mit ganzen Eimern kalten Wassers, aber die Logik zischt auf den glühenden Lagern und entweicht als weißer Dampf, der sich nicht greifen lässt.
Wenn man die wirkliche Bedeutung einer Funktion bestimmen will, muss man ihren Grenzwert nehmen, das ist völlig klar. Also war meine lächerliche »Auflösung im Weltall«, von der ich gestern sprach, wenn man sie als Limes auffasst, nichts anderes als der Tod. Denn der Tod ist die totale Auflösung des Ich im Weltall. Daraus folgt: Wenn man die Liebe mit L bezeichnet, den Tod mit T, dann ist L — f (T), das bedeutet, dass Liebe eine Funktion des Todes…