Ja, so ist es, so und nicht anders! Deswegen fürchte ich I, deswegen ringe ich mit ihr und will mich ihr nicht unterwerfen.
Aber warum stehen »ich will nicht« und »ich will« in mir nebeneinander? Das Entsetzliche ist, dass ich diesen seligen Tod von gestern herbeisehne. Das Entsetzliche ist, dass mich sogar jetzt, da ich die logische Funktion integriert habe, da ich weiß, dass sie den Tod in sich trägt, mit Lippen, Händen, mit meiner Brust, mit jedem Millimeter meines Körpers nach ihr verlangt… Morgen ist der Tag der Einstimmigkeit. Sie wird dort sein, ich werde sie sehen, freilich nur von weitem — das wird mir sehr wehe tun, denn ich muss neben ihr sein, ich fühle mich unwiderstehlich zu ihr hingezogen, ich muss ihre Knie, ihre Schultern, ihr Haar spüren… Aber ich will ja diesen Schmerz, ich brauche ihn.
Großer Wohltäter! Welch absurder Gedanke — nach Schmerz verlangen! Jeder weiß, dass Schmerzen negative Größen sind und die Summe verringern, die wir Glück nennen. Daraus folgt… Nichts, gar nichts folgt daraus. Öde, Leere.
Durch die gläsernen Mauern des Hauses blicke ich in den fiebrig glühenden Sonnenuntergang. Ich stelle meinen Sessel so, dass ich diesen triumphierenden roten Schein nicht mehr sehe, und blättere in meinem Manuskript. Dabei muss ich feststellen: Ich habe wieder einmal vergessen, dass ich nicht für mich schreibe, sondern für Sie, unbekannte Leser, die ich liebe und bedaure, weil Sie sich noch irgendwo tief unten abmühen wie die Menschen vergangener Jahrhunderte. Nun will ich von dem Tag der Einstimmigkeit berichten, dem herrlichsten aller Tage. Ich habe ihn von frühester Jugend an geliebt. Ich glaube, für Sie ist dieser Tag etwas Ähnliches wie das Osterfest unserer Ahnen. Ich kann mich noch genau erinnern, dass ich mir als Kind am Tag vor dem Fest einen kleinen Kalender anlegte und feierlich eine Stunde nach der anderen ausstrich: jede Stunde, die ich ausstrich, hieß eine Stunde weniger warten. Wenn ich wüsste, dass niemand es sähe, würde ich auch heute — mein Ehrenwort — einen solchen Kalender bei mir tragen und mich jeden Augenblick vergewissern, wie viel Zeit noch bis morgen bleibt, wann ich sie endlich sehen werde, wenn auch nur von weitem… Ich wurde unterbrochen, der Schneider brachte meine neue Uniform. Nach altem Brauch erhalten sämtliche Nummern neue Uniformen für das Fest. Morgen werde ich ein Schauspiel erleben, das sich jahraus, jahrein wiederholt und uns jedes Mal von neuem begeistert: die gewaltige Schale der Einstimmigkeit, andächtig erhobene Hände. Morgen ist der Tag der alljährlich wiederkehrenden Wahl des Wohltäters. Morgen werden wir IHM die Schlüssel zu der unbezwinglichen Feste unseres Glückes für ein weiteres Jahr übergeben. Der Tag der Einstimmigkeit hat natürlich nichts mit jenen ungeordneten, unorganisierten Wahlen unserer Vorfahren zu tun, deren Ergebnis nicht im voraus bekannt war. Es gibt nichts Unsinnigeres, als einen Staat auf blinde Zufälligkeiten zu gründen. Aber es mussten ganze Jahrhunderte vergehen, bevor die Menschen das einsahen. Ich brauche Ihnen deshalb wohl nicht zu sagen, dass es bei uns keinen Raum für irgendwelche Zufälligkeiten, für unerwartete Ereignisse gibt. Unsere Wahlen haben eher eine symbolische Bedeutung: sie erinnern uns daran, dass wir einen einzigen, gewaltigen Organismus bilden, der aus Millionen Zellen besteht, dass wir — in den Worten des Evangeliums gesagt — die Einzige Kirche sind. In der Geschichte des Einzigen Staates ist es noch niemals vorgekommen, dass auch nur eine Stimme sich erdreistet hätte, das machtvolle Unisono dieses feierlichen Tages zu stören.
Es heißt, unsere Vorfahren hätten ihre »Wahlen«
»geheim« durchgeführt, sich also wie Diebe versteckt. Einige Historiker behaupten sogar, sie seien maskiert zur Wahl erschienen (ich stelle mir dieses phantastisch-düstere Schauspiel ungefähr so vor: Nacht, ein freier Platz, dunkel gekleidete Gestalten, die an den Mauern entlangschleichen, im Wind flackern rote Fackeln…). Den Grund für diese Geheimnistuerei haben wir bis auf den heutigen Tag nicht eindeutig feststellen können. Wahrscheinlich hingen diese Wahlen mit irgendwelchen mystischen, abergläubischen oder sogar verbrecherischen Vorgängen zusammen. Wir aber haben nichts zu verbergen und brauchen uns für nichts zu schämen: wir halten unsere Wahlen in aller Öffentlichkeit am hellen Tag ab. Ich sehe, wie alle für den Wohltäter stimmen, alle anderen sehen, wie ich dem Wohltäter meine Stimme gebe — und es kann auch gar nicht anders sein, denn alle und ich — das ist das große Wir. Unsere Wahlmethoden erziehen die Menschen zu einer edlen Gesinnung, sie sind viel aufrichtiger und besser als die feige, verlogene Geheimniskrämerei von einst. Außerdem sind sie weit zweckmäßiger. Nehmen wir einmal an, das Unmögliche würde geschehen, und ein falscher Ton schliche sich in die Monophonie ein. Die unsichtbaren Beschützer, die mitten in unseren Reihen sitzen, würden es sofort bemerken und die auf Abwege geratenen Nummern zurückhalten und sie so vor weiteren Entgleisungen bewahren. Aber noch etwas kommt hinzu… Mein Blick fällt auf die gläserne Wand des Nachbarzimmers: eine Frau steht vor dem Spiegel und knöpft eilig ihre Uniform auf. Eine Sekunde lang sehe ich Augen, Lippen und zwei spitze rosige Punkte. Dann schließen sich die Vorhänge. Meine Erlebnisse von gestern fallen mir plötzlich wieder ein, und ich weiß nicht mehr, was »noch hinzukommt«. Ich will es auch gar nicht wissen. Ich will nur eins: I! Ich will, dass sie fortan immer bei mir ist, bei mir allein. Was ich von dem »Fest« geschrieben habe, ist lauter Unsinn. Ich möchte alles durchstreichen, zerreißen, wegwerfen. Denn ich weiß, dass es für mich nur dann ein Feiertag ist, wenn ich sie bei mir habe, wenn ihre Schulter die meine berührt. (Vielleicht ist dies ein frevelhafter Gedanke, aber es ist die Wahrheit.) Ohne I wird die Sonne von morgen nur eine Blechscheibe sein, der Himmel ein Stück blaubemaltes Blech, und ich selber…
Ich nahm den Telefonhörer ab: »I, sind Sie’s?«
»Ja. Warum rufen Sie so spät an?«
»Ich… ich wollte Sie bitten… ich möchte gern, dass Sie morgen neben mir sitzen. Liebste…« Liebste — ich hauchte das nur. Sie gab lange keine Antwort. Mir war, als hörte ich in I.s Zimmer jemand flüstern. Endlich sagte sie: »Nein, ich kann nicht. Sie wissen, wie gern ich es möchte, aber es geht wirklich nicht. Warum? Morgen werden Sie es sehen.«
EINTRAGUNG NR. 25
Vor der Wahl, als sich alle erhoben und die feierlichen Klänge der Hymne über unseren Köpfen brausten, vergaß ich für eine Sekunde, was I von diesem Feiertag gesagt und was mich so sehr beunruhigt hatte. Ja, ich glaube, ich vergaß sogar sie. Ich war wieder der kleine Junge, der an diesem Tag einmal bitterlich geweint hatte, weil er einen winzigen, ihm allein sichtbaren Fleck auf seiner Uniform entdeckte. Wenn auch keiner der rings um mich Stehenden sah, wie viele schwarze Flecken jetzt auf mir waren, so wusste ich doch allzu gut, dass ein Verbrecher wie ich unter diesen Menschen mit den offenen, ehrlichen Gesichtern nichts zu suchen hatte. Ach, ich wäre am liebsten aufgesprungen, um mit tränenerstickter Stimme die ganz Wahrheit über mich herauszuschreien. Mag es auch mein Ende sein, dachte ich, was tut es? Wenn ich mich nur eine einzige Sekunde lang so rein und gedankenlos fühlen könnte wie dieser kindlich-blaue Himmel! Aller Augen blickten zum Himmel auf; in dem morgendlich keuschen Blau zitterte ein kaum erkennbarer Punkt, bald dunkel, bald im Licht blitzend. Das war Er, der von den Himmeln zu uns herniederstieg, ein neuer Jehova im Flugzeug, weise, gütig und streng wie der Gott der Alten. Mit jeder Minute kam Er näher und näher, immer höher schlugen Ihm Millionen Herzen entgegen. Jetzt musste Er uns sehen! Im Geist schaute ich mit Ihm auf die Menge herab, auf die punktierten Linien der konzentrisch angeordneten Tribünen, die wie Kreise eines Spinnennetzes waren. Im Zentrum dieses Netzes würde sich gleich eine weiße weise Spinne niederlassen, der Wohltäter in weißer Uniform, der uns in seiner Weisheit unsere Hände und Füße mit den starken Fäden des Glückes gebunden hat. Seine erhabene Niederfahrt war beendet, die brausende Hymne verstummte, alle hatten sich wieder hingesetzt. Da erkannte ich plötzlich, dies war wirklich ein hauchdünnes Spinnennetz, zum Zerreißen gespannt, ja, im nächsten Augenblick musste es reißen, und dann würde etwas Unglaubliches geschehen.