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Ich richtete mich ein wenig auf und schaute mich um. Mein Blick begegnete einem Augenpaar, das ein Gesicht nach dem anderen liebend und besorgt musterte. Da hob jemand die Hand und gab einem anderen ein Zeichen. Und da — das Antwortsignal. Noch einmal… Das waren sie, die Beschützer. Irgend etwas beunruhigte sie, das Spinnennetz war so straff gespannt, dass es bebte. Auf dem Podium verlas ein Dichter die Wahleröffnungsrede, doch ich nahm die einzelnen Worte nicht auf, ich hörte nur den gleichmäßigen Rhythmus der Hexameter, der mich an das Ticken einer Uhr erinnerte. Mit jedem Schwung des Pendels rückte eine bestimmte Sekunde näher, immer näher. Wie im Fieber schweiften meine Augen über die Reihen, doch ich konnte das eine Gesicht, das ich suchte, nirgends entdecken. Ich musste es so schnell wie möglich finden, ich musste sie finden, denn gleich würde die Uhr ticken, und dann…

Er — ja, das war er! Rosa Ohren, eine S-förmige Schlinge flogen an dem Podium vorüber. Er eilte durch die Gänge zwischen den Tribünen.

S, I — zwischen den beiden bestand irgendeine Verbindung. (Ich vermute das seit langer Zeit, aber ich weiß bis jetzt nicht, welcher Art diese Verbindung ist. Irgendwann werde ich es erfahren.) Ich blickte ihm nach. Plötzlich blieb er stehen… Es war wie ein elektrischer Schlag — etwas durchzuckte mich, presste mich zu einem Bündel zusammen. S stand in unserer Reihe, höchstens 40° von mir entfernt, und beugte sich zu jemand hinab. Ich sah I; neben ihr den grinsenden R-13 mit seinen widerlichen Negerlippen.

Mein erster Gedanke war, zu ihr zu stürzen und laut zu schreien: »Warum bist du heute mit ihm zusammen? Warum wolltest du mich nicht bei dir haben?« Aber eine unsichtbare Spinne fesselte mich an Händen und Füßen. Die Zähne aufeinander beißend, blieb ich sitzen, ohne sie aus den Augen zu lassen. In diesem Augenblick empfand ich einen starken physischen Schmerz im Herzen, den ich jetzt noch spüre.

Das war mein Ich. Ich weiß noch, dass ich dachte: Wenn nichtphysische Ursachen einen physischen Schmerz hervorrufen können, dann ist es klar, dass… Leider dachte ich diesen Gedanken nicht zu Ende, ich kann mich nur ganz dunkel entsinnen, dass mir jene törichte Redensart unserer Vorfahren einfieclass="underline" Es zerreißt mir die Seele. Ich erstarrte: die Hexameter waren verstummt. Jetzt würde es geschehen…

Eine Pause von fünf Minuten folgte. Doch dieses Schweigen war kein andächtiges Gebet wie sonst, es hatte etwas Bedrückendes, wie in alten Zeiten, als man noch keine Akkumulatorentürme kannte, als bisweilen ein Gewitter über den ungezähmten Himmel jagte. Die Luft — durchsichtiges Erz, man möchte mit weit aufgerissenem Mund atmen.

Mein zum Zerreißen gespanntes Ohr registrierte irgendwo hinter mir ein aufgeregtes Flüstern. Es klang wie das Nagen einer Maus. Unter gesenkten Lidern spähte ich die ganze Zeit zu I und R hinüber, und auf meinen Knien zitterten meine behaarten Hände, die nicht mir gehörten, die ich hasste… Alle hielten die Abzeichen mit der Uhr in der Hand. Eine Minute verstrich, zwei, drei, fünf Minuten… Auf dem Podium sprach eine eherne Stimme klar und langsam: »Wer dafür ist, hebe die Hand.«

Wenn ich ihm nur in die Augen sehen könnte, wie früher, aufrichtig und ergeben: »Da bin ich. Ganz! Nimm mich hin!« Mit großer Anstrengung, als wären meine Gelenke eingerostet, hob ich die Hand.

Ein Rauschen von Millionen Händen, ein gedämpftes »Ach!« Ich fühlte, dass jetzt etwas begann, dass etwas jäh umstürzte, doch ich wusste nicht, was, denn mir fehlte die Kraft, hinzublicken, ich wagte es nicht… »Wer ist dagegen?«

Das war stets der feierlichste Augenblick des ganzen Tages: Alle blieben regungslos sitzen und beugten sich freudig dem wohltätigen Joch der Nummer aller Nummern. Plötzlich hörte ich zu meinem Entsetzen wieder ein Geräusch; es war leiser als ein Windhauch und lauter als die brausenden Töne der Hymne. Es klang wie der letzte schwache Seufzer eines Sterbenden — und alle Gesichter ringsum erbleichten, allen trat kalter Schweiß auf die Stirn.

Ich blickte auf, nur eine Hundertstelsekunde… Tausende von Händen flogen empor — »dagegen« — und fielen herab. Ich sah I.s blasses, von einem Kreuz gezeichnetes Gesicht, sah ihre erhobene Hand. Mir wurde schwarz vor den Augen.

Stille, mein Puls hämmerte wild. Dann, als hätte ein wahnsinniger Dirigent das Zeichen zum Einsatz gegeben, auf allen Tribünen Lärm, laute Rufe, wie ein Sturmwind vorüberwirbelnde Uniformträger, hilflos hin und her laufende Beschützer, Stiefelabsätze in der Luft, dicht vor meinem Gesicht, neben den Absätzen ein aufgerissener, von einem unhörbaren Schrei verzerrter Mund. Ringsum Tausende brüllender Münder — wie auf einer imaginären, riesigen Leinwand.

Sekundenlang sah ich die weißen Lippen von O, sie duckte sich in dem schmalen Durchgang dicht an die Mauer, den Leib mit beiden Händen schützend. Im Nu war sie verschwunden, weggespült, oder ich hatte sie vergessen, denn…

Aber das spielte sich nicht mehr auf einer Leinwand ab, sondern in mir selbst, in meinem zusammengepressten Herzen, in meinen hämmernden Schläfen. Links über mir sprang plötzlich R-13 auf eine Bank, rot, rasend. Auf seinen Armen I, totenbleich, die Uniform von der Schulter bis zur Brust aufgerissen, auf der weißen Haut Blut. Sie hielt sich an seinem Hals fest, und er trug sie, wie ein widerlicher Gorilla, flink von Bank zu Bank setzend, aus dem Gewühl.

Ich weiß nicht, wo ich die Kraft hernahm — ich drängte mich durch die Menge, sprang über Schultern und Bänke, und schon hatte ich sie eingeholt und packte R am Kragen. »Loslassen! Sofort loslassen!« (Zum Glück konnte das keiner hören, denn alle schrieen, alle rannten.) R wandte sich um, seine Lippen bebten, er dachte wohl, die Beschützer seien ihm auf den Fersen. »Ich dulde das nicht, ich will das nicht! Hände weg, sofort!«

Er schnalzte ärgerlich mit den dicken Lippen, schüttelte den Kopf und eilte weiter. Und da — es ist mir sehr peinlich, dass ich dies niederschreiben muss, aber ich glaube, ich darf es nicht verschweigen, damit Sie, unbekannte Leser, die Geschichte meiner Krankheit bis ins kleinste studieren können — da holte ich aus und schlug ihn nieder.

Stellen Sie sich vor — ich schlug ihn nieder! Ich kann mich noch genau daran erinnern. I glitt rasch aus seinen Armen.

»Gehen Sie!« schrie sie R zu, »gehen Sie! Sie sehen doch, er… Gehen Sie, R! Schnell!«

R fletschte die weißen Zähne, spritzte mir irgendein Wort ins Gesicht und tauchte in der Menge unter. Ich nahm I auf meine Arme, drückte sie fest an meine Brust und trug sie fort.

Mein Herz schlug wie wild, und ich hörte in mir die jubelnde Stimme der Freiheit. Mochte dort unten alles zu Scherben werden — es kümmerte mich nicht! Ich wollte nichts weiter als sie tragen, tragen, tragen…

Abends, 22 Uhr.

Die verwirrenden Ereignisse von heute morgen haben mich so erschöpft, dass ich die Feder kaum halten kann. Sind die schützenden, ewigen Mauern des Einzigen Staates wirklich zusammengestürzt? Sind wir wieder ohne Obdach, in wilder Freiheit, wie unsere Urväter? Gibt es tatsächlich keinen Wohltäter mehr? Dagegen… am Tag der Einstimmigkeit — dagegen? Ich schäme mich für diese Nummern, ich leide, ich fürchte mich für sie. Übrigens — wer ist das eigentlich — sie? Und wer bin ich selber — sie oder wir?