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Ich hatte I zu der obersten Reihe der Tribüne getragen. Sie saß auf einer gläsernen Bank in der Sonne. Die rechte Schulter und der Ansatz der herrlichen, unberechenbaren Kurve weiter unten waren entblößt und eine dünne rote Schlange ringelte sich darauf — Blut. Sie hatte offenbar nicht bemerkt, dass ihre Brust entblößt war, dass sie blutete… nein, sie sah es, sie wusste, dass es so sein musste, und wäre ihre Uniform geschlossen gewesen, sie hätte sie jetzt aufgerissen…

»Morgen«, sie atmete gierig durch die zusammengepressten weißen Zähne, »was morgen geschieht, weiß keiner. Hörst du — weder ich weiß es noch sonst jemand — keiner! Alle Gewissheit ist zu Ende. Jetzt kommt etwas Neues, Unglaubliches, Unerhörtes!«

Drunten herrschte noch immer ein wildes Gewühl. Doch das alles war so fern, ich hörte es nicht mehr, denn sie schaute mich an und saugte mich langsam durch die schmalen goldenen Fenster ihrer Augen in sich hinein. Da fiel mir ein, dass ich einmal durch die Grüne Mauer in die geheimnisvollen gelben Augen eines seltsamen Wesens geblickt hatte.

»Höre, wenn morgen nichts Besonderes geschieht, werde ich dich dorthin führen — du weißt doch, was ich meine.« Nein, ich wusste es nicht, doch ich nickte stumm. Ich hatte mich aufgelöst, ich war unendlich klein, ein Punkt… Aber in dieser Vorstellung lag ja eine gewisse Logik des heutigen Tages, denn der Punkt ist eine völlig unbekannte Größe — er braucht sich nur zu regen, sich fortzubewegen — und er kann sich in tausend verschiedene Kurven, in Hunderte von Körpern verwandeln. Ich habe Angst, mich zu bewegen — in was werde ich mich verwandeln? Mir scheint, dass alle gleich mir die leiseste Bewegung fürchten. Jetzt, da ich diese Zeilen schreibe, sitzen sie in ihren gläsernen Käfigen und warten auf irgend etwas. Kein summender Lift, kein Lachen, keine Schritte sind im Korridor zu hören wie sonst um diese Stunde. Hin und wieder kommen Nummern an meinem Zimmer vorbei; sie gehen auf Zehenspitzen, blicken sich verstohlen um und flüstern miteinander: Was wird morgen sein? In was werde ich mich morgen verwandeln?

EINTRAGUNG NR. 26

Übersicht: Die Welt existiert. Aussatz. 41°.

Morgen. Durch die Zimmerdecke blickt der Himmel zu mir herein, fest wie immer, rund, rotwangig. Ich glaube, ich würde mich weniger wundern, wenn ich statt dessen eine viereckige Sonne, Menschen in bunten Kleidern aus Tierwolle und undurchsichtige Steinwände erblicken würde. Sie existiert also noch, die Welt, unsere Welt. Vielleicht ist es aber nur die Trägheit der Materie — der Generator ist schon abgestellt, doch die Getriebe knirschen und drehen sich noch — zwei Umdrehungen, drei, und nach der vierten stehen sie still…

Kennen Sie dieses seltsame Gefühclass="underline" Man wacht mitten in der Nacht auf, öffnet die Augen, blickt in die Finsternis, glaubt, man habe sich verirrt. Hastig tastet die Hand ins Dunkel, sucht die Wand, die Lampe, den Stuhl. So suchte ich in der Staatszeitung nach etwas — da, da war es: Gestern fand die von allen Nummern ungeduldig erwartete Feier der Einstimmigkeit statt. Der Wohltäter, der schon so oft seine unfehlbare Weisheit bewiesen hat, wurde zum achtundvierzigsten Male einstimmig wieder gewählt. Einige Feinde des Glückes versuchten die Feier zu stören. Durch ihr staatsfeindliches Verhalten haben sie das Recht verwirkt, Bausteine des gestern erneuerten Fundaments des Einzigen Staates zu sein. Ihren Stimmen Bedeutung beizumessen, wäre genauso töricht, wie wenn man glauben würde, ein Husten im Konzertsaal gehöre zu einer heroischen Sinfonie. Jeder von uns weiß das. Oh, Allerweisester! Sind wir wirklich gerettet, trotz allem, was geschehen? In der Tat, was könnte man auf diesen kristallklaren Syllogismus erwidern?

Dann folgten noch drei Zeilen:

Heute um 12 Uhr wird die Staatsverwaltung gemeinsam mit dem Gesundheitsamt und den Beschützern über einen wichtigen Staatsakt beraten.

Nein, noch standen die Mauern, ich fühlte sie. Das seltsame Empfinden, ich hätte mich verirrt, war mit einemmal verschwunden, es kam mir nicht mehr sonderbar vor, dass ich einen blauen Himmel und eine kreisrunde Sonne sah. Alle gingen wie sonst zur Arbeit.

Festen Schrittes eilte ich über den Prospekt. Ich kam zur Kreuzung und bog in eine Seitenstraße ein. Merkwürdig, dachte ich, die Leute machen einen Bogen um das Eckgebäude, als wäre dort ein Rohr gebrochen, als schösse kaltes Wasser auf den Gehsteig.

Noch zehn, fünf Schritte — und ich war gleichfalls mit kaltem Wasser übergossen, ich taumelte und sprang auf den Fahrdamm… etwa zwei Meter über mir klebte ein viereckiges Stück Papier an der Mauer, und darauf las ich in giftgrünen Lettern das unverständliche Wort MEPHI. Vor dem Plakat ein krummer Rücken, durchsichtige, flügelähnliche Ohren, die vor Zorn oder vor Erregung bebten. Den rechten Arm erhoben, den linken wie einen zerbrochenen Flügel hilflos nach hinten streckend, sprang er in die Höhe, um das Plakat abzureißen, doch er konnte es nicht erreichen.

Wahrscheinlich dachte jeder der Vorübergehenden: Wenn ich zu ihm hingehe und ihm helfe, dann denkt er bestimmt, ich fühlte mich irgendwie schuldig, und deswegen… Ich gestehe, auch ich hatte diesen Gedanken. Doch ich erinnerte mich daran, wie oft er mein Schutzengel gewesen, wie oft er mich gerettet hatte, und so trat ich entschlossen auf ihn zu, streckte die Hand aus und riss das Plakat herunter.

S wandte sich um, seine Augen bohrten sich in mich hinein, bis auf den tiefsten Grund, suchten und fanden dort etwas. Dann deutete er mit einer leichten Bewegung der linken Augenbraue auf die Mauer, wo das viereckige Papier mit dem Wort MEPHI gehangen hatte, und über sein Gesicht huschte ein Lächeln, das zu meiner Verwunderung fast heiter wirkte. Doch wieso wunderte ich mich eigentlich darüber? Die beängstigend langsam ansteigende Temperatur der Inkubationszeit ist dem Arzt stets unangenehmer als ein Ausschlag und 40° Fieber — denn in diesem Fall sieht man wenigstens sofort, um welche Krankheit es sich handelt. Das Wort MEPHI, das heute auf allen Mauern stand, war wie ein Ausschlag. Ich verstand das Lächeln von S…

In der Untergrundbahn sah ich überall diesen weißen, entsetzlichen Ausschlag — auf Wänden, Bänken und Spiegeln klebten Zettel mit der Aufschrift MEPHI. Die Nummern saßen stumm auf ihren Plätzen. In der Stille konnte ich das Geräusch der Räder deutlich hören; es klang wie das Rauschen entzündeten Blutes. Einer stieß seinen Nachbarn mit der Schulter an, der darauf zusammenfuhr und ein Paket mit Papieren fallen ließ. Die Nummer links neben mir las in einer Zeitung, immer die gleiche Zeile, und die Zeitung zitterte leise in seinen Händen. Überall, in Rädern, Händen, Zeitungen, Augenwimpern schlug ein Puls, schneller, immer schneller, und wenn ich heute mit I dorthin ginge, würde das Thermometer vielleicht auf 39, 40, 41 Grad steigen.

Auf der Werft herrschte eine drückende, von dem Summen eines fernen, unsichtbaren Propellers kaum unterbrochene Stille. Die Maschinen standen schweigend und finster da. Nur die Kräne bewegten sich langsam, lautlos, wie auf Zehenspitzen. Sie senkten sich, packten mit ihren Greifern blaue Klumpen gefrorener Luft und luden sie in die Zisternen des Integral. Wir trafen Vorbereitungen zum Probeflug.

»Ob wir wohl noch diese Woche fertig werden?« fragte ich den zweiten Konstrukteur. Er hat ein Gesicht wie aus Porzellan, auf das Augen und Lippen wie blaue und rosa Blümchen gemalt sind; aber heute waren die Blumen verblichen, wie ausgewaschen.

Wir rechneten. Plötzlich verstummte ich und riss vor Entsetzen den Mund auf. Ganz oben unter der Kuppel, auf dem blauen Klumpen Luft in den Greifern des Krans, schimmerte ein winziges weißes Quadrat, ein Plakat. Ich zitterte am ganzen Leibe — wahrscheinlich vor Lachen. Ja, ich hörte, wie ich lachte. (Wissen Sie, wie das ist, wenn man sein eigenes Lachen hört?)