Die Gesetzestafel… Von der Wand meines Zimmers blicken ihre purpurnen Zahlen auf goldenem Grund mir wohlwollend-streng in die Augen. Unwillkürlich muss ich an das denken, was die Alten Ikone nannten, und ich möchte Verse schreiben oder beten (was übrigens das gleiche ist). Ach, warum bin ich kein Dichter, um dich würdig zu preisen, o Gesetzestafel, du Herz und Puls des Einzigen Staates! Wir alle (vielleicht auch Sie) haben schon als Schulkinder das größte aller uns erhaltenen Denkmäler der alten Literatur gelesen, den Eisenbahnfahrplan. Vergleichen Sie ihn einmal mit der Gesetzestafel, und Sie werden sehen: Das eine ist Graphit, das andere Diamant, beide bestehen aus dem gleichen Element, C, Kohlenstoff, aber wie durchsichtig-klar ist der Diamant, wie leuchtet er! Ihnen geht gewiss der Atem aus, wenn Sie die Seiten des Fahrplans entlangjagen. Die Stunden-Gesetzestafel hingegen verwandelt jeden von uns in einen stählernen sechsrädrigen Helden des großen Poems. Jeden Morgen stehen wir, Millionen, wie ein Mann zu ein und derselben Stunde, zu ein und derselben Minute auf. Zu ein und derselben Stunde beginnen wir, ein Millionenheer, unsere Arbeit, zur gleichen Stunde beenden wir sie. Und zu einem einzigen, millionenhändigen Körper verschmolzen, führen wir in der gleichen, durch die Gesetzestafel bestimmten Sekunde die Löffel zum Mund, zur gleichen Sekunde gehen wir spazieren, versammeln uns zu den Taylor-Exerzitien in den Auditorien, legen uns schlafen … Ich will ganz offen sein: Die absolute, endgültige Lösung des Problems Glück haben selbst wir noch nicht gefunden: Zweimal am Tag, von 16 bis 17 und von 21 bis 22 Uhr, spaltet sich der gewaltige Organismus in einzelne Zellen auf — das sind die von der Gesetzestafel festgesetzten Persönlichen Stunden. Zu dieser Zeit sehen Sie folgendes Bild: Die einen sitzen hinter geschlossenen Gardinen in ihren Zimmern, andere gehen im Takt zu den ehernen Klängen des Marsches auf dem Prospekt spazieren, wieder andere sitzen am Schreibtisch, wie ich in diesem Augenblick. Aber ich glaube — man mag mich einen Idealisten oder Phantasten nennen —, ich glaube ganz fest daran, dass wir irgendwann, früher oder später, auch für diese zwei Stunden einen Platz in der allgemeinen Formel finden werden, dass dann die Gesetzestafel sämtliche 86.400 Sekunden des Tages umfassen wird. Viel Unwahrscheinliches habe ich von jenen Zeiten gelesen und gehört, da die Menschen noch in Freiheit, nicht organisiert und wie die Wilden lebten. Aber am unbegreiflichsten war es mir immer, wie der damalige Staat, so unvollkommen er auch gewesen sein mag, es dulden konnte, dass die Menschen ohne Verordnungen lebten, die denen unserer Gesetzestafel vergleichbar wären, ohne Pflichtspaziergänge, ohne genau festgelegte Essenszeiten, dass sie aufstanden und zu Bett gingen, wann es ihnen gerade einfiel; einige Historiker berichten sogar, dass damals die ganze Nacht Lampen in den Straßen brannten, dass die Leute nachts durch die Straßen gingen und fuhren.
Ich kann das einfach nicht fassen. Wie beschränkt ihre Einsicht auch war, sie mussten doch erkennen, dass dieses Leben Selbstmord war, ein langsamer Selbstmord. Der Staat (die Humanität) verbot, einen Menschen zu töten, verbot aber nicht, Millionen umzubringen. Einen zu töten, das heißt die Summe aller Menschenleben um 50 Jahre zu verringern, war ein Verbrechen, aber die gleiche Summe um 50 Millionen Jahre zu verringern, war keines. Ist das nicht lächerlich?
Jede beliebige zehnjährige Nummer unseres Staates kann dieses mathematisch-moralische Problem in einer halben Minute lösen; sie aber vermochten es nicht, nicht einmal all ihre Kants zusammen (weil keiner dieser Kants draufkam, ein System wissenschaftlicher Ethik zu schaffen, einer Ethik nämlich, die auf Substraktion, Addition, Division und Multiplikation beruht).
Und ist es nicht absurd, dass der Staat von damals (dieses Gebilde wagte sich Staat zu nennen) das Geschlechtsleben ohne jegliche Kontrolle ließ? Die Menschen konnten sich vergnügen, wann und wie sie wollten, und sie zeugten Kinder wie die Tiere, in blinder Lust, ohne sich um die Lehren der Wissenschaft zu kümmern. Ist das nicht lächerlich: Sie kannten sich in Gartenbau, Geflügelzucht, Fischzucht aus (wir haben zuverlässige Quellen darüber) und vermochten dennoch nicht, die letzte Sprosse dieser logischen Leiter zu erklimmen: die Kinderzucht. Sie kamen nicht auf unsere Vater- und Mutternorm. Alles, was ich bis jetzt geschrieben habe, ist so töricht und unwahrscheinlich, dass Sie, unbekannter Leser, mich vielleicht für einen üblen Witzbold halten. Sie werden denken, dass ich mich über Sie lustig mache und mit todernster Miene den größten Unsinn von mir gebe.
Aber erstens bin ich gar nicht fähig, einen Witz zu machen — jeder Witz ist eine unklare Funktion, also eine Lüge —, und zweitens behauptet die Wissenschaft des Einzigen Staates, dass das Leben unserer Vorfahren so und nicht anders war, und die Wissenschaft des Einzigen Staates kann sich nicht irren. Woher hätte damals, als die Menschen in Freiheit, nämlich wie Tiere, wie Affen in Herden, lebten, die Staatslogik herkommen sollen? Was konnte man von ihnen erwarten, wenn man sogar noch in unseren Tagen irgendwoher aus der Tiefe, aus dem wilden Abgrund, das wilde Echo des Affen vernimmt? Zum Glück vernehmen wir es nur selten. Zum Glück sind das nur unbedeutende kleine Schäden, die wir leicht beheben können, ohne den ewigen Lauf der ganzen Maschine zu stoppen. Wenn wir einen verbogenen Bolzen entfernen müssen — dazu haben wir die geschickte, starke Hand des Wohltäters und die scharfen Augen der Beschützer… Übrigens, da fällt mir ein, diese S-ähnliche Nummer von gestern habe ich, glaube ich, einmal aus dem Beschützeramt herauskommen sehen. Jetzt begreife ich, warum ich unwillkürlich Ehrfurcht vor ihm empfand und warum mir so unbehaglich zumute wurde, als die sonderbare I-300 in seiner Gegenwart… Ich muss gestehen, diese I… Es läutet zum Schlafengehen: 22.30 Uhr. Bis morgen.
EINTRAGUNG NR. 4
Bis zum heutigen Tag war mir alles im Leben völlig klar (ich habe wohl nicht zufällig eine gewisse Vorliebe für das Wort klar). Heute aber… Ich kann es nicht fassen.
Erstens: Ich habe tatsächlich Order erhalten, zum Auditorium 112 zu kommen, wie sie mir sagte. Obgleich die Wahrscheinlichkeit dafür nur 1500 : 10,000.000 = 3 : 20.000 war (1500 = Anzahl der Auditorien, 10,000.000 = Anzahl der Nummern). Und drittens… Aber ich will alles der Reihe nach erzählen. Das Auditorium. Eine riesige, sonnendurchglühte Halbkugel aus massivem Glas. Zahllose kugelförmige, glattrasierte Köpfe. Ich blickte mich etwas beklommen um. Ob hier nicht irgendwo über den blauen Wogen der Uniformen ein rosiger Halbmond schwebte, die lieben Lippen von O? Da — eine Reihe ungewöhnlich weißer, scharfer Zähne… Nein, es war etwas anderes, das ich suchte. Heute Abend um 21 Uhr wird O zu mir kommen; der Wunsch, sie hier zu sehen, war also ganz natürlich. Ein Klingelzeichen ertönte. Wir erhoben uns, sangen die Hymne des Einzigen Staates, und auf dem Podium begann der goldfunkelnde Lautsprecher des Phonolektors: »Verehrte Nummern! Vor kurzem haben die Archäologen ein Buch aus dem 20. Jahrhundert ausgegraben. Der Autor erzählt darin von einem Wilden und einem Barometer. Der Wilde hatte entdeckt, dass, sooft das Barometer auf Regen stand, es tatsächlich regnete. Da der Wilde Regen haben wollte, kratzte er so viel Quecksilber heraus, bis das Barometer auf Regen stehen blieb.« Auf der Leinwand sah man einen federgeschmückten Wilden, der das Quecksilber aus dem Barometer entfernte. Gelächter. »Sie lachen, aber meinen Sie nicht auch, dass der Europäer jener Epoche weit lächerlicher war als dieser Wilde? Der Europäer begehrte ebenfalls Regen, aber wie hilflos war er dem Barometer gegenüber! Der Wilde hingegen besaß Mut, Energie und Logik, wenn auch eine recht wilde Logik: er stellte fest, dass es eine Verbindung zwischen Ursache und Wirkung gibt. Indem er das Quecksilber herauskratzte, tat er den ersten Schritt auf jenem großen Wege, den wir…«