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»Nein! Bleib noch ein wenig, nur noch ein wenig, um des Wohl…«

Sie hob meine Hand langsam zum Licht, meine behaarte Hand, die ich so sehr hasste. Ich wollte sie ihr entwinden, doch sie hielt sie fest.

»Deine Hand… Du weißt ja nicht — nur wenige wissen es —, dass Frauen von hier, aus unserer Stadt, jene Menschen liebten. Auch in dir ist wahrscheinlich ein Tropfen Sonnen- und Waldblut. Vielleicht habe ich dich deswegen…«

Pause. Seltsam; diese Pause, diese Leere, dieses Nichts ließ mein Herz so wild pochen, dass es fast zersprang. Ich schrie: »Nein, ich lasse dich nicht gehen, nicht bevor du mir von ihnen erzählt und mir gesagt hast, warum du sie so liebst. Ich weiß nicht einmal, wer sie sind und woher sie kommen. Wer sind sie? Die Hälfte, die wir verloren haben… H und O — aber wenn h2O entstehen soll, Bäche, Meere, Wasserfälle, Wogen, Strudel, dann müssen sich die beiden Hälften vereinigen…« Ich kann mich noch deutlich an jede ihrer Bewegungen erinnern. Ich erinnere mich, dass sie mein gläsernes Dreieck vom Tisch nahm und es gegen ihr Gesicht presste, während sie sprach. Auf ihrer Wange blieb eine weiße Spur zurück, die sich rötete und dann verschwand. Doch ich kann mich nicht ihrer Worte entsinnen, nur einzelner Bilder und Farben. Ich glaube, sie erzählte etwas vom 200jährigen Krieg. Zuerst sah ich rote Flecke auf grünem Gras, auf der dunklen Erde, auf dem bläulich-weißen Schnee, rote Lachen, die nicht trocknen wollten. Dann gelbes, von der Sonne versengtes Gras, nackte, gelbe, zerzauste Menschen und gelbe, struppige Hunde — und schließlich aufgedunsene Kadaver, vielleicht waren es Hunde, vielleicht auch Menschen… Das alles spielte sich natürlich jenseits der Grünen Mauer ab, denn die Stadt hatte bereits gesiegt, in der Stadt gab es damals schon unsere künstliche Nahrung.

Ich hörte das Rauschen schwerer, schwarzer Falten, die von der Erde bis zum Himmel reichten — Rauchsäulen über brennenden Wäldern und Dörfern. Dumpfes Getöse: endlose Scharen von Menschen werden in die Stadt getrieben, um mit Gewalt gerettet zu werden und das Glück zu lernen.

»Hast du das alles gewusst?« fragte sie mich. »Ja, fast alles.«

»Aber du wusstest nicht, dass eine kleine Gruppe von ihnen trotzdem unversehrt geblieben ist und jenseits der Mauern weiterlebte. Nackt flohen sie in die Wälder. Dort gingen sie bei Bäumen, Tieren, Vögeln, Blumen und bei der Sonne in die Schule. Im Lauf der Zeit bedeckte sich ihr Körper mit Haaren, aber unter diesem Fell bewahrten sie ihr heißes, rotes Blut. Ihr seid viel schlimmer als sie, ihr seid mit Zahlen bewachsen, ihr wimmelt von Zahlen wie von Läusen. Man muss alles von euch herunterreißen und euch nackt in die Wälder jagen. Ihr müsst lernen, vor Angst, vor Freude, vor Hass und vor Wut, vor Kälte zu zittern, ihr müsst das Feuer anbeten. Und wir, die Mephi, wir wollen…«

»Mephi, was ist das?«

»Mephi? Das ist ein uralter Name, das ist jener, der… Auf dem Felsblock dort ist ein Jüngling dargestellt, erinnerst du dich noch? Nein, ich will es dir lieber in deiner Sprache erklären, damit du es besser verstehst. Es gibt zwei Kräfte in der Welt, Entropie und Energie. Die eine schafft selige Ruhe und glückliches Gleichgewicht, die andere führt zur Zerstörung des Gleichgewichts, zu qualvoll-unendlicher Bewegung. Unsere oder, richtig gesagt, eure Vorfahren, die Christen, haben die Entropie als Gott verehrt. Wir aber, die Antichristen, wir…« In diesem Augenblick klopfte jemand leise an die Tür, und jener Mensch mit der gewölbten Stirn, der mir einmal Nachricht von I gebracht hatte, trat ein. Er eilte auf uns zu, blieb stehen, rang nach Luft und brachte lange kein Wort heraus. Er musste aus Leibeskräften gerannt sein. »Nun, was gibt’s? Was ist geschehen?« fragte I und nahm ihn am Arm.

»Sie kommen… hierher…«, stieß er endlich hervor. »Beschützer… mit ihnen jener — jener Bucklige.«

»S?«

»Ja! Sie sind schon im Nachbarhaus. Gleich werden sie hier sein! Schnell, schnell!«

»Unsinn! Wir haben noch Zeit…« Sie lachte, in ihren Augen tanzten lustige kleine Flammen. Es war entweder tollkühner Mut oder etwas anderes, das ich nicht begriff.

»I, ich bitte dich«, sagte ich flehend, »um des Wohltäters willen! Verstehst du denn nicht…«

»Um des Wohltäters willen?« Ein spöttisches Lächeln. »Nun, dann um meinetwillen … ich bitte dich, geh.«

»Ich habe eigentlich noch etwas mit dir zu besprechen … aber gut, verschieben wir’s auf morgen…« Sie nickte mir vergnügt (ja, vergnügt!) zu und ging mit dem Mann hinaus. Ich war allein.

Schnell an den Schreibtisch. Ich schlug mein Manuskript auf und nahm die Feder in die Hand, damit sie mich bei dieser Arbeit fänden, die dem Nutzen des Einzigen Staates diente. Plötzlich bewegte sich jedes einzelne Haar auf meinem Kopf, als wäre es lebendig: »Wenn sie das Manuskript in die Hand nehmen und eine Seite lesen, eine von den letzten? Was dann?«

Ohne mich zu rühren, saß ich am Schreibtisch. Die Wände bebten, die Feder zitterte in meiner Hand, die Buchstaben verschwammen vor meinen Augen… Verstecken? Aber wo? — alles war ja aus Glas! Verbrennen? Man hätte es vom Korridor und von den anderen Zimmern aus gesehen. Außerdem hatte ich nicht die Kraft, dieses Stück meiner selbst, das mir vielleicht teurer ist als alles übrige, zu vernichten. Nein, ich konnte es nicht. Stimmen, Schritte im Korridor. Da waren sie. Ich konnte gerade noch einen Stoß Blätter ergreifen und mich draufsetzen. Jetzt war ich an den Sessel geschmiedet, der mit jedem einzelnen Atom bebte. Der Boden meines Zimmers war wie das Deck eines Schiffes, er hob und senkte sich… Zusammengekauert blickte ich verstohlen auf. Sie gingen von Zimmer zu Zimmer, sie kamen näher, immer näher. Einige Nummern saßen wie ich erstarrt da, andere eilten ihnen entgegen und rissen die Tür weit auf. Die Glücklichen! Wenn ich doch auch…

»Der Wohltäter ist eine für die ganze Menschheit unumgänglich notwendige, totale Desinfektion, und infolgedessen gibt es in dem Einzigen Staat keine Peristaltik…« Diesen völlig sinnlosen Satz schrieb ich mit tanzender Feder nieder und beugte mich dabei noch tiefer über den Tisch. In meinem Kopf hämmerte eine Grille wie rasend, mit dem Rücken zur Tür lauschte ich angestrengt. Da klirrte die Klinke, ich fühlte einen Luftzug, der Sessel begann sich zu drehen…

Mit unsäglicher Mühe riss ich mich von meinem Manuskript los und wandte mich zu den Eintretenden (wie schwer ist es, Komödie zu spielen… ach, wer hatte mir denn heute etwas von einer Komödie gesagt?). S kam als erster herein, schweigend, finster. Seine Augen bohrten sich in mich, in meinen Sessel, in das Blatt Papier unter meinen zitternden Händen. Dann sah ich bekannte Gesichter im Türrahmen, eines von ihnen löste sich aus der Gruppe — aufgeblähte dunkelrote Kiemen… Mir fiel alles wieder ein, was sich vor einer halben Stunde in meinem Zimmer abgespielt hatte, und mir war völlig klar, dass sie sogleich… Mein Herz, mein ganzes Wesen pochte und hüpfte in jenem (zum Glück undurchsichtigen) Teil meines Körpers, unter dem ich mein Manuskript verborgen hatte.

U trat von hinten an S heran und flüsterte: »Das ist D-503, der Konstrukteur des Integral. Sie haben doch sicherlich schon von seiner Erfindung gehört? Er sitzt immer am Schreibtisch… Er gönnt sich niemals Ruhe.« Was sollte ich dazu sagen? Welch wunderbare Frau. S kam leise auf mich zu, beugte sich über meine Schulter und blickte auf den Tisch. Ich stemmte die Ellbogen auf mein Manuskript, doch er sagte in strengem Ton: »Zeigen Sie, was Sie da haben!«

Glühend rot vor Scham reichte ich ihm das Blatt. Er überflog es, und ich sah, wie in seinen Augen ein Lächeln aufschimmerte, über sein Gesicht huschte und im rechten Mundwinkel haften blieb.

»Etwas doppeldeutig, aber immerhin… Nun, machen Sie weiter, wir wollen Sie nicht länger stören.« Er schlurfte zur Tür, und mit jedem seiner Schritte kehrte allmählich Leben in meine Füße, Hände und Finger zurück. Meine Seele verteilte sich gleichmäßig durch den ganzen Körper, ich atmete befreit auf… Aber U stand immer noch neben mir. Sie beugte sich zu mir herab und flüsterte mir ins Ohr: »Ihr Glück, dass ich…« Ich weiß nicht, was sie damit sagen wollte. Am Abend erfuhr ich, dass sie drei verhaftet hatten. Natürlich wagte keiner von uns, laut von diesem Vorfall zu sprechen (der erzieherische Einfluss der unsichtbar in unserer Mitte weilenden Beschützer). Unsere Gespräche drehten sich vor allem um das rasche Fallen des Barometers und den bevorstehenden Witterungsumschlag.