EINTRAGUNG NR. 29
Merkwürdig — das Barometer fällt, aber noch immer haben wir keinen Wind, es herrscht tiefe Stille. Dort oben hat es schon begonnen, das für uns unhörbare Gewitter. Die Wolken stürmen über den Himmel. Bis jetzt sind es nur einzelne gezackte Fetzen. Es hat den Anschein, als wäre man dort oben schon dabei, irgendeine Stadt zu zerstören, als flögen dicke Brocken von Mauern und Türmen zu uns herab. Diese Brocken wachsen mit erschreckender Schnelligkeit vor meinen Augen, sie kommen immer näher, doch sie müssen noch tagelang durch die blaue Unendlichkeit fliegen, bevor sie auf die Erde aufschlagen.
Hier unten ist alles grabesstill. In der Luft schweben hauchfeine, fast unsichtbare Fäden. Jedes Jahr trägt sie der Herbst aus dem Land hinter der Mauer in die Stadt herüber, und auf einmal spürt man etwas Fremdes, Unsichtbares im Gesicht, man möchte es wegwischen, doch man kann sich nicht davon befreien… An der Grünen Mauer, wo ich heute morgen spazierenging, gibt es besonders viele dieser Fäden. I hatte mir gesagt, ich solle sie in »unserer Wohnung« im Alten Haus treffen.
Unweit von dem dunklen Alten Haus hörte ich kurze, eilige Schritte und einen keuchenden Atem hinter mir. Ich wandte mich um — es war O!
Sie sah ganz anders aus als sonst, rund und straff. Die Uniform spannte sich über ihrem Körper, der mir so vertraut war. Bald würde dieser Körper den dünnen Stoff zerreißen und nach außen drängen, an die Sonne, ans Licht. Ich musste an die grünen Schluchten jenseits der Mauer denken, wo im Frühling die Keime die Erde durchstoßen, um Zweige, Blätter und Blüten zu treiben. O schaute mich schweigend an, ihre blauen Augen strahlten. Dann sagte sie:
»Ich habe Sie gesehen — damals, am Tag der Einstimmigkeit.«
»Ich habe Sie auch gesehen…« Ich erinnerte mich sogleich, dass sie in dem engen Durchgang gestanden hatte, dicht an die Mauer geduckt, den Leib mit den Händen schützend. Unwillkürlich blickte ich auf diesen Leib, der sich unter der Uniform wölbte. Sie schien es bemerkt zu haben, denn sie wurde rot und lächelte verlegen: »Ich bin so glücklich, so glücklich… Ich sehe und höre nichts von dem, was um mich ist, ich lausche nur in mich hinein…«
Ich entgegnete kein Wort. Auf meinem Gesicht haftete etwas Fremdes, Störendes, und ich konnte mich nicht davon befreien. Plötzlich nahm sie meine Hand und führte sie an ihre Lippen… Diese altmodische Liebkosung, die ich zum ersten Mal in meinem Leben spürte, beschämte und schmerzte mich so sehr, dass ich ihr meine Hand heftig entriss.
»Sind Sie wahnsinnig?… Worüber freuen Sie sich eigentlich? Haben Sie denn vergessen, was Sie erwartet? Nicht sofort natürlich, aber in ein, zwei Monaten …« Sie erbleichte, alle Rundungen ihres Körpers fielen zusammen. Ich fühlte in meinem Herzen eine unangenehme, krankhafte Kompression, die von dem so genannten Mitleid herrührte. (Das Herz ist nichts anders als eine ideale Pumpe. Eine Pumpe kann niemals eine Kompression bewirken, sie kann niemals eine Flüssigkeit aufsaugen — das wäre technisch unmöglich, geradezu absurd. Daraus folgt, wie unsinnig, widernatürlich und krankhaft Liebe, Mitleid und Ähnliches ist, das eine solche Kompression hervorruft.)
Stille. Neben mir das trübe grüne Glas der Mauer, vor mir ein dunkelroter Steinhaufen… Die Resultante dieser beiden Kräfte war eine glänzende Idee: »Halt! Ich weiß, wie Sie gerettet werden können. Ihr Kind gebären und dann sterben — vor diesem Schicksal will ich Sie bewahren. Sie sollen Ihr Kind großziehen und sehen, wie es auf Ihren Armen heranwächst.«
Am ganzen Leibe zitternd, klammerte sie sich an mich.
»Sie erinnern sich wohl noch an jene Frau«, sagte ich, »damals auf dem Spaziergang. Sie ist jetzt im Alten Haus. Wir gehen gleich zu ihr, und ich werde alles Nötige veranlassen.«
Im Geist sah ich uns zu dritt durch die unterirdischen Gänge gehen, und schon war O in jenem Land, inmitten von Blumen und Gräsern und Blättern… Aber sie wich betroffen zurück, ihre Mundwinkel zuckten und neigten sich nach unten.
»Das ist doch dieselbe…«, sagte sie.
»Hm, sie ist…«, stotterte ich verlegen, »ja, sie ist dieselbe.«
»Und Sie verlangen von mir, dass ich zu ihr gehe, dass ich sie bitte… dass ich…? Unterstehen Sie sich, noch ein Wort davon zu sagen!«
Gesenkten Hauptes eilte sie davon. Plötzlich wandte sie sich noch einmal um, als hätte sie etwas vergessen, und rief:
»Was ist schon dabei, dass ich sterben muss? Und Ihnen ist ja sowieso alles gleich!«
Stille. Von oben fallen Brocken von zerstörten Mauern und Türmen herab und wachsen mit erschreckender Schnelligkeit vor meinen Augen; doch sie müssen noch Stunden oder gar Tage durch die Unendlichkeit fliegen.
Langsam gleiten unsichtbare Fäden durch die Luft, sie haften an meinem Gesicht, aber ich kann mich nicht von ihnen befreien.
Ich ging zum Alten Haus. In meinem Herzen eine absurde, quälende Kompression …
EINTRAGUNG NR. 30
Gestern traf ich mich mit I im Alten Haus. Unter dem verwirrenden Lärm roter, grüner, bronzegelber und weißlicher Farbtöne, der mich am logischen Denken hinderte, und unter dem marmornen Lächeln des krummnasigen alten Dichters hatten wir ein langes Gespräch. Ich will es hier Wort für Wort wiedergeben, da es, wie mir scheint, von entscheidender Bedeutung nicht nur für den Einzigen Staat, sondern für das Weltall ist. Unvermittelt sagte I:
»Ich weiß, dass der Integral übermorgen zum ersten Probeflug startet. Wir werden ihn in die Hand bekommen.«
»Wie? Übermorgen?«
»Ja. Setz dich, reg dich nicht auf. Wir dürfen keine Minute verlieren. Unter den hundert, die gestern auf bloßen Verdacht hin verhaftet wurden, sind zwölf Mephi. Wenn wir noch zwei, drei Tage warten, sind sie verloren.« Ich schwieg.
»Ihr müsst Elektrotechniker, Mechaniker, Ärzte und Meteorologen als Beobachter an Bord nehmen. Um zwölf, wenn es zur Mittagspause läutet und alle zum Essen gehen, bleiben wir im Korridor und schließen sie in der Kantine ein. Dann ist der Integral unser… Es muss sein, um jeden Preis, hörst du? Der Integral ist unsere Waffe, mit deren Hilfe wir allem mit einem Schlag ein Ende machen können. Ihre Flugzeuge… ha! Ein elender Mückenschwarm gegen einen Geier! Und sollte es wirklich nicht ohne Gewalt gehen, dann brauchen wir nur den Auspuff des Integral nach unten zu richten. Das genügt.«
Ich sprang auf:
»Das ist ja Wahnsinn! Ist dir nicht klar, dass das, was du da planst, eine Revolution ist?«
»Ja, es ist eine Revolution! Und warum soll es Wahnsinn sein?«
»Weil unsere Revolution die letzte war. Es kann keine neue Revolution mehr geben. Das wissen alle.« Sie zog spöttisch die Augenbrauen hoch: »Mein Lieber, du bist doch Mathematiker, mehr noch, du bist ein Philosoph. Bitte nenn mir die letzte Zahl.«
»Was meinst du damit? Ich… ich verstehe nicht, welche letzte Zahl?«