»Nun, die letzte, höchste, die allergrößte Zahl.«
»Aber I, das ist ja alles dummes Zeug. Die Anzahl der Zahlen ist doch unendlich. Was für eine letzte Zahl willst du also?«
»Und was für eine letzte Revolution willst du? Es gibt keine letzte Revolution, die Anzahl der Revolutionen ist unendlich. Die letzte — das ist etwas für kleine Kinder. Die Kinder fürchten sich vor der Unendlichkeit, doch sie müssen unter allen Umständen ruhig schlafen, und deshalb…«
»Aber was für einen Sinn hat das alles, um des Wohltäters willen? Was für einen Sinn hat das alles, da doch alle glücklich sind?«
»Schön, nehmen wir an, wir seien tatsächlich glücklich. Aber wie geht es weiter?«
»Lächerlich! Eine ganz kindische Frage! Erzähle Kindern eine Geschichte, erzähle sie zu Ende — sie werden trotzdem fragen: Und wie geht es weiter?«
»Kinder sind eben die einzig kühnen Philosophen. Und kühne Philosophen sind Kinder. Wie die Kinder muss man immer fragen: Und wie geht es weiter?«
»Es gibt kein Weiter! Punkt, aus! Überall, im ganzen Weltall muss Gleichheit und Gleichmaß herrschen…«
»Aha! Gleichmäßigkeit, überall! Da haben wir sie, die Entropie, die psychologische Entropie. Ist dir als Naturwissenschaftler denn nicht klar, dass nur in der Verschiedenartigkeit… in Temperaturunterschieden, in Wärmekontrasten — Leben ist? Wenn aber überall, im ganzen Weltall, gleichartig-warme oder gleichartig-kalte Körper sind… nun, dann muss man sie zusammenstoßen, damit Feuer, eine Explosion, die Hölle entsteht. Und wir werden sie zusammenstoßen.«
»Aber I, begreife doch — gerade das haben ja unsere Vorfahren im 200jährigen Krieg getan…«
»Oh, sie hatten recht, tausendmal recht. Sie haben nur einen Fehler gemacht: Sie glaubten später, sie seien die letzte Zahl, etwas, das es in der Natur niemals gibt, niemals. Ihr Irrtum war der Irrtum Galileis — er hatte recht mit seiner Behauptung, dass sich die Erde um die Sonne dreht, doch er wusste nicht, dass sich das ganze Sonnenzentrum um ein anderes Zentrum bewegt, er wusste nicht, dass die wirkliche, nicht die relative Bahn der Erde durchaus kein naiver Kreis ist…«
»Und ihr?«
»Wir? Bis jetzt wissen wir, dass es keine letzte Zahl gibt. Vielleicht werden wir es einmal vergessen. Ja, wir werden es ganz gewiss vergessen, wenn wir alt werden. Und dann fallen auch wir unaufhaltsam hinab, wie im Herbst die Blätter von den Bäumen fallen, wie ihr übermorgen fallen werdet… Nein, nein, Liebster, du nicht, du bist ja einer der Unseren!«
Stürmisch, mit funkelnden Augen, von Leidenschaft glühend — noch nie hatte ich sie so gesehen — umarmte sie mich. Dann sah sie mir fest in die Augen und sagte:
»Also denk daran — Punkt zwölf!«
»Ja, ich vergesse es nicht«, antwortete ich. Sie ging hinaus, und ich war allein mit dem vielstimmigen Lärm von Blau, Rot, Grün, Bronze und Orange. Ja, um zwölf… Plötzlich spürte ich etwas Fremdes in meinem Gesicht, von dem ich mich nicht befreien konnte. Der gestrige Morgen fiel mir ein. U, die Worte, die sie I zugeschrien hatte… Wie kam sie dazu? Verrückt! Ich machte mich eilig auf den Heimweg. Hinter mir ein gellender Vogelschrei über der Grünen Mauer. Vor mir die Stadt im Schein der untergehenden Sonne, ganz aus himbeerrotem, kristallisiertem Feuer — die runden Kuppeln, die riesigen Häuserwürfel, die Spitzen der Akkumulatorentürme, die am Himmel erstarrten Blitzen glichen. All das, diese ganze makellose geometrische Schönheit, sollte ich mit meinen eigenen Händen vernichten… Gab es wirklich keinen Ausweg?
Ich kam an einem Auditorium vorbei (die Nummer habe ich vergessen). Drinnen ein Haufen aufgestapelter Bänke, in der Mitte Tische, mit Tüchern aus schneeweißem Glas bedeckt, auf dem Weiß ein Fleck rötlichen Sonnenblutes. In all dem war ein unbekanntes und deshalb beängstigendes Morgen verborgen. Es ist doch höchst widernatürlich, dachte ich, wenn ein denkendes, sehendes Wesen unter Regellosigkeiten, Unbekannten und allerlei x leben muss. Das ist genauso, als ob man einem Menschen die Augen verbinden und ihn zwingen würde, zu gehen, zu tasten, zu stolpern. Er weiß, dass irgendwo in der Nähe ein Abgrund ist; noch ein Schritt — und nur ein plattgedrücktes, unförmiges Stück Fleisch bleibt von ihm übrig. Was aber, wenn man einfach kopfüber hinunterspringt? Wäre das nicht das einzig Richtige, würde es nicht alles mit einem Male lösen?
EINTRAGUNG NR. 31
Gerettet! Im allerletzten Augenblick, da es schon so aussah, als gäbe es nirgends einen Halt, als wäre alles aus… So, als wäre man schon die Stufen zur Maschine des Wohltäters hinaufgestiegen, als hätte sich der gläserne Schirm mit dumpfem Klirren über einem geschlossen, als sähe man sich zum letzten Mal mit weitgeöffneten Augen an dem blauen Himmel satt…
Und plötzlich entdeckt man, dass alles nur ein Traum war. Die Sonne strahlt rosig und heiter, und die Mauern — wie wohl tut es, mit der Hand die kalte Mauer zu streicheln — und das Kopfkissen — wie berauscht man sich an der kleinen Vertiefung, die der Kopf in das Kissen gedrückt hat… Das alles empfand ich, als ich heute morgen die Staatszeitung las. Ja, was ich gestern erlebt habe, war nur ein entsetzlicher Traum, und nun ist er vorbei. Dabei hatte ich in meiner Verzagtheit, in meinem kläglichen Kleinmut schon an Selbstmord gedacht! Ich schäme mich, jetzt die letzten Seiten zu lesen, die ich gestern geschrieben habe. Nun, mögen sie stehen bleiben als Erinnerung an jenes Unglaubliche, das wohl hätte sein können, das aber nie sein wird, nie!
Auf der ersten Seite der Staatszeitung stand in großen Lettern: Freut euch, denn von nun an seid ihr vollkommen! Bis zum heutigen Tage waren eure Kinder, die Mechanismen, vollkommener als ihr. Wodurch?
Jeder Funke des Dynamos ist ein Funke der reinsten Vernunft, jeder Stoß des Kolbens ist ein reiner Syllogismus. Ist diese unfehlbare Vernunft nicht auch in euch? Die Philosophie von Kranen, Pressen und Pumpen ist geschlossen und klar wie der Kreis eines Zirkels. Bewegt sich eure Philosophie nicht auch in Kreisen? Die Schönheit des Mechanismus liegt in seinem Rhythmus, der unveränderlich und genau ist wie der eines Pendels. Seid ihr, die ihr von Kindesbeinen an nach dem System Taylors erzogen wurdet, nicht auch so exakt wie ein Pendel?
Aber entscheidender als dies alles ist: Mechanismen haben keine Phantasie. Habt ihr je gesehen, dass bei der Arbeit auf dem Gesicht eines Pumpenzylinders ein entrücktes, töricht-verträumtes Lächeln spielt? Habt ihr je gehört, dass die Krane nachts, in Stunden, die der Ruhe dienen sollen, sich unruhig hin-und herwerfen und seufzen? Nein!
An euch aber — schämt euch! — entdecken die Beschützer dieses Lächeln und Seufzen immer öfter. Und — schlagt schuldbewusst die Augen nieder — die Historiker des Einzigen Staates bitten um Entlassung, weil sie diese schmachvollen Ereignisse nicht beschreiben wollen. Doch das alles ist nicht eure Schuld — ihr seid krank. Eure Krankheit heißt Phantasie.
Die Phantasie ist ein Wurm, der schwarze Furchen in eure Stirnen frisst, ein Fieber, das euch treibt, immer weiterzueilen — wenn auch dieses »weiter« dort beginnt, wo das Glück endet. Die Phantasie ist das letzte Hindernis auf dem Weg zum Glück. Freut euch, dieses Hindernis ist beseitigt. Der Weg ist frei.
nie staatliche Wissenschaft hat vor kurzem eine wichtige Entdeckung gemacht: das Zentrum der Phantasie ist ein winziger Knoten an der Gehirnbasis. Eine dreimalige Bestrahlung dieses Knotens — und ihr seid von der Phantasie geheilt. Für immer.
Ihr seid vollkommen, ihr seid wie Maschinen, der Weg zum vollkommenen Glück ist frei. Kommt in die Auditorien und lasst euch operieren. Es lebe die Große Operation, es lebe der Einzige Staat! Es lebe der Wohltäter! Liebe Leser, wenn Sie dies in meinen Aufzeichnungen lesen würden, die einem sonderbaren, altmodischen Roman gleichen, wenn Sie die nach frischer Druckerschwärze riechende Staatszeitung in Ihren zitternden Händen hielten, wenn Sie wüssten, dass es die wirklichste Wirklichkeit ist — wenn nicht heute, so doch morgen —, dann würden Sie gewiss das gleiche empfinden wie ich jetzt. Der Kopf würde Ihnen schwindeln, bange, süße, eisige Schauer würden Ihnen über Arme und Rücken laufen. Sie würden glauben, Sie seien ein Gigant, ein Atlas, der unfehlbar an die gläserne Decke stößt, wenn er sich aufrichtet. Ich nahm den Telefonhörer ab: