»I-330, ja, 330.« Gleich darauf stammelte ich: »Sind Sie zu Hause? Haben Sie’s schon gelesen? Ist das nicht wunderbar?«
»Ja…« Ein langes, dunkles Schweigen. »Ich muss Sie heute unbedingt sehen. Kommen Sie nach 16 Uhr zu mir.« Liebste! Liebste! »Unbedingt!…« Ich lächelte — ich konnte nicht länger an mich halten. Lächelnd ging ich durch die Straßen. Der Wind sprang mich an. Er brauste, wirbelte, pfiff, peitschte mein Gesicht. Aber das stimmte mich nur noch froher. Tobe nur, heule nur, jetzt wirst du unsere Mauern nicht mehr umwerfen! Über meinem Kopf jagten bleigraue Wolken dahin; nun — sie werden die Sonne nicht verdunkeln — wir haben sie an den Zenit geschmiedet, wir, die Nachfolger von Nazareth. An der Ecke drängten sich die Nummern. Sie pressten die Stirnen an die gläsernen Mauern des Auditoriums. Drinnen lag einer auf dem blendendweißen Tisch. Unter einem weißen Tuch sahen die nackten gelblichen Fußsohlen hervor, Ärzte in weißen Kitteln beugten sich über das Kopfende des Tisches, eine weiße Hand hielt eine Spritze mit irgendeiner Flüssigkeit.
»Warum gehen Sie nicht auch hinein?« fragte ich einen oder, richtiger, alle.
»Und Sie?« Einer drehte sich zu mir um. »Ich gehe später. Ich muss vorher noch …« Ein wenig verwirrt ging ich weiter. Ich musste tatsächlich I noch vorher sehen. Aber warum denn »vorher« — darauf fand ich keine Antwort…
Auf der Werft. Der Integral leuchtete wie bläuliches Eis. Im Maschinenraum heulte der Dynamo, zärtlich ein und dasselbe Wort wiederholend, mein Wort. Ich bückte mich und streichelte den langen, kalten Auspuff des Motors. Morgen wirst du leben, morgen wird ein Funkenregen in deinem Leibe sprühen und dich erheben lassen… Mit welchen Augen würde ich dieses gläserne Untier sehen, wenn alles noch so geblieben wäre wie gestern? Wenn ich gewusst hätte, dass ich es morgen um zwölf Uhr verraten würde? Ja, verraten…
Jemand zupfte mich am Ellbogen. Ich wandte mich um: das flache Tellergesicht des zweiten Konstrukteurs. »Wissen Sie schon?« fragte er. »Was? Die Operation? Ja, eine großartige Sache.«
»Nein, das meine ich nicht. Der Probeflug ist auf übermorgen verschoben worden. Alles wegen dieser Operation… Wir haben uns umsonst abgehetzt.«
Alles wegen der Operation! Lächerlicher, beschränkter Mensch! Wenn es keine Operation gäbe, säße er morgen im gläsernen Käfig, würde wie wahnsinnig hin und her rennen…
In meinem Zimmer. 12.30 Uhr. Als ich hereinkam, saß U an meinem Schreibtisch, knochig, kerzengerade, die rechte Wange auf die Hand gestützt. Sie musste lange gewartet haben, denn als sie aufsprang und mir entgegeneilte, sah ich auf ihrer Wange fünf Vertiefungen, die von den Fingern herrührten.
Eine Sekunde lang dachte ich an jenen unglücklichen Morgen — sie hatte neben I am Schreibtisch gestanden, voller Wut… Aber das dauerte nur einen Augenblick, dann hatte die heutige Sonne schon alles weggewischt. Es war, wie wenn man an einem klaren Tag ins Zimmer kommt und zerstreut das Licht einschaltet — die Lampe brennt, doch sie scheint nicht dazusein, so lächerlich, armselig und überflüssig ist sie.
Ohne Zögern streckte ich ihr die Hand hin; ich verzieh ihr alles… Sie nahm meine Hände und drückte sie fest. Ihre Backen, die wie ein altmodischer Zierat über die Kinnladen herabhingen, begannen zu zittern. Sie sagte: »Ich habe auf Sie gewartet… Ich wollte nur eine Minute… Ich wollte Ihnen nur sagen, wie glücklich ich bin, wie sehr ich mich für Sie freue! Morgen oder übermorgen sind Sie genesen, wie neugeboren…« Auf dem Schreibtisch sah ich die beiden letzten Seiten meiner gestrigen Aufzeichnungen; sie lagen noch genauso da, wie ich sie gestern Abend hatte liegenlassen. Wenn sie gesehen hätte, was ich da geschrieben habe… Nun, das wäre jetzt auch gleich. Das alles gehört bereits der Geschichte an, es ist schon so weit weg, als sähe ich es durch ein umgekehrtes Fernglas…
»Ja«, erwiderte ich. »Übrigens, auf dem Prospekt habe ich eben etwas Seltsames beobachtet: ein paar Menschen gingen vor mir her, und denken Sie, ihr Schatten leuchtete! Ich glaube ganz gewiss, dass es morgen überhaupt keine Schatten mehr geben wird, weder von einem Menschen noch von einem Gegenstand; die Sonne wird alles durchdringen…«
»Sie sind ein Träumer! Meinen Kindern würde ich nicht erlauben, so zu reden …«, sagte sie mit zärtlicher Strenge und erzählte mir, dass sie ihre ganze Schulklasse zur Operation geführt habe und dass man die Kinder an den Tischen hatte festbinden müssen. Doch man müsse ja »erbarmungslos« lieben, und sie habe sich nun endlich entschlossen… Sie lächelte mir ermunternd zu und ging. Zum Glück war die Sonne heute noch nicht stehen geblieben; es war 16 Uhr. Mit pochendem Herzen klopfte ich an die Tür von I.s Zimmer. »Herein!«
Ich kniete vor ihrem Sessel nieder, umschlang ihre Beine, warf den Kopf zurück und blickte ihr in die Augen… Jenseits der Mauer stieg ein Gewitter auf, die Wolken wurden immer dunkler. Ich stammelte wirres Zeug: Ich fliege mit der Sonne irgendwohin… nein, nicht irgendwohin, jetzt kennen wir unsere Flugrichtung. Hinter mir flammensprühende Planeten, in denen feurige, laut tönende Blumen wachsen, dann stumme blaue Planeten, wo vernünftige Steine zu einer organisierten Gesellschaft vereinigt sind, Planeten, die gleich unserer Erde den Gipfel des höchsten, des vollkommenen Glücks erreicht haben…
Plötzlich sprach eine Stimme von oben: »Du glaubst doch nicht, dass diese vernünftigen Steine der Gipfel sind?«
Immer spitzer, immer dunkler wurde das Dreieck in ihrem Gesicht:
»Und das Glück? Wünsche sind etwas Qualvolles, findest du nicht auch? Man ist nur dann glücklich, wenn man keinen Wunsch mehr hat… Welch ein Irrtum, welch ein lächerliches Vorurteil, dass wir bis heute ein Pluszeichen vor das Glück gesetzt haben, vor das absolute Glück hingegen ein Minuszeichen, das göttliche Minus.« Ich erinnere mich, dass ich zerstreut murmelte: »Das absolute Minus — 273 Grad…«
»Stimmt, minus 273. Ein wenig kühl, aber beweist das nicht, dass wir auf dem Gipfel stehen?« Sie sprach gleichsam meine eigenen Gedanken aus, wie sie es schon einmal getan hatte. Doch das hatte etwas Beängstigendes für mich, ich konnte es nicht ertragen, und mit großer Mühe zwang ich mir ein Nein ab. »Nein«, sagte ich, »du… du scherzest.« Sie lachte laut, zu laut. Sie stand auf, legte die Hände auf meine Schultern und blickte mich lange an. Dann zog sie mich an sich, und ich vergaß alles, fühlte nur noch ihre heißen Lippen. »Leb wohl!«
Das kam aus weiter Ferne, ganz von oben, und erreichte mich vielleicht erst nach zwei, drei Minuten. »Wieso, leb wohl?«
»Du bist doch krank, du hast um meinetwillen ein Verbrechen begangen. Hat dich das nie gequält? Jetzt gehst du zur Operation — und dann bist du von mir geheilt. Das bedeutet: Leb wohl.«
»Nein!« schrie ich. »Wie, du verschmähst das Glück?«
Mein Kopf zersprang in zwei Hälften, zwei logische Züge stießen zusammen und entgleisten…
»Wähle: die Operation und das vollkommene Glück oder…«
»Ich kann ohne dich nicht leben«, murmelte ich, oder vielleicht dachte ich es auch nur, aber sie hatte es gehört. »Ich weiß«, antwortete sie, und während ihre Hände immer noch auf meinen Schultern ruhten und sie mir tief in die Augen blickte, fuhr sie fort: »Dann bis morgen. Morgen um zwölf.«
»Nein, es ist um einen Tag aufgeschoben… übermorgen.«
»Um so besser für uns. Also übermorgen…« Ich ging allein durch die dämmrige Straße. Der Wind packte mich, trug mich fort wie einen Papierfetzen, von dem gusseisernen Himmel stürzten dicke Brocken herab — sie müssen noch ein, zwei Tage durch die Unendlichkeit fliegen… Die Uniformen, die mir begegneten, hielten mich an, aber ich ging allein weiter. Mir war klar: Alle waren gerettet, doch für mich gab es keine Rettung mehr; ich wollte nicht gerettet werden.