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Aber ich ließ sie nicht ausreden und schob sie hastig durch die Tür. Über dem Tisch im Vestibül sah ich die zitternden Hängebacken von U; ein Haufen Nummern drängte sich zeternd und streitend um sie. Ich zog O in die entgegengesetzte Ecke, setzte sie mit dem Rücken zur Wand auf einen Stuhl (ich hatte bemerkt, dass draußen ein dunkler Schatten mit einem großen Kopf über das Pflaster huschte) und nahm mein Notizbuch aus der Tasche. O saß da, als wäre ihr Körper unter der Uniform verdampft, als wäre sie nur noch eine leere Hülle mit Augen, aus denen einen eine blaue Leere anblickte. Müde sagte sie: »Warum haben Sie mich hierher geführt? Wollen Sie mich betrügen?«

»Nein! Still! Sehen Sie, draußen vor dem Haus…«

»Ja, ein Schatten.«

»Er ist schon die ganze Zeit hinter mir her. Ich kann Sie nicht zu I bringen. Verstehen Sie es doch! Ich schreibe rasch ein paar Zeilen, die nehmen Sie mit und gehen allein. Ich weiß, dass er hier bleiben wird.« Unter ihrer Uniform regte sich wieder ein Körper, ihr Leib rundete sich allmählich, ihr Gesicht hellte sich auf.

Ich gab ihr den Zettel und drückte ihre kalte Hand. Meine Augen ruhten zum letzten Mal in ihren blauen Augen.

»Leben Sie wohl! Vielleicht werden wir uns wieder sehen…«

Sie zog ihre Hand zurück. Mit hängendem Kopf machte sie zwei Schritte, drehte sich rasch um und stand wieder neben mir. Ihre Lippen zuckten, ihre Augen, ihr Mund, ihr ganzer Körper sagten mir ein Wort, immer das gleiche Wort — welch unerträgliches Lächeln in ihrem Gesicht, welcher Schmerz…

Dann sah ich das zusammengeduckte Bündel Mensch in der Tür und gleich darauf einen winzigen Schatten vor dem Haus. Sie entfernte sich, ohne sich noch einmal umzusehen.

Ich trat zu U an den Tisch. Sie blies erregt die Kiemen auf und sagte:

»Der da behauptet, er habe beim Alten Haus einen nackten Menschen gesehen, der ganz mit Haaren bedeckt war. Verstehen Sie das? Die sind ja alle verrückt geworden.«

Aus der Gruppe rief eine Stimme: »Jawohl! Ich habe ihn auch gesehen!«

»Was sagen Sie dazu? Ist das nicht Irrsinn?« sagte U zu mir. Sie sprach das Wort »Irrsinn« so überzeugt aus, dass ich mich fragte:

»Ist alles, was in letzter Zeit mit mir und um mich herum geschehen ist, vielleicht nichts weiter als Irrsinn?« Ich blickte auf meine behaarten Hände, und da fiel mir ein: »In dir ist gewiss noch ein Tropfen Waldblut… Vielleicht habe ich dich deswegen…« Nein, zum Glück ist es kein Irrsinn. Nein, zum Unglück ist es keiner.

EINTRAGUNG NR. 33

Übersicht: Ohne Übersicht. In aller Eile ein letztes Wort.

Der bewusste Tag war angebrochen. — Rasch ein Blick in die Zeitung, vielleicht war dort… Ich las die Zeitung nur mit den Augen (meine Augen sind wie eine Feder, wie ein Rechenschieber, den man in den Händen hält, etwas Fremdes, ein Instrument). Eine riesige Schlagzeile zog sich über die erste Seite: Die Feinde des Glückes schlafen nicht. Haltet das Glück mit beiden Händen fest! Morgen ruht jegliche Arbeit — sämtliche Nummern werden zur Operation antreten. Wer nicht erscheint, endet durch die Maschine des Wohltäters. Morgen! Kann es überhaupt noch ein Morgen geben? Die Macht der Gewohnheit ließ mich die Hand nach dem Bücherbrett ausstrecken und die heutige Zeitung zu den übrigen in eine Mappe mit Goldprägung legen. Dabei dachte ich: Wozu? Ich werde nie wieder in dieses Zimmer zurückkehren!

Die Zeitung fiel auf den Boden. Ich stand da und blickte mich im Zimmer um; hastig raffte ich alles zusammen, was ich mitnehmen wollte, und warf es in einen imaginären Koffer. Den Tisch, die Bücher, den Sessel. Auf diesem Sessel hatte I damals gesessen… und ich hatte vor ihr auf der Erde gekniet. Das Bett… Dann wartete ich eine, zwei Minuten lang töricht auf irgendein Wunder; vielleicht würde das Telefon rasseln, vielleicht würde sie mir sagen, dass… Nein, es geschah kein Wunder…

Ich gehe jetzt hinaus, ins Unbekannte. Dies sind meine letzten Worte. Leben Sie wohl, liebe unbekannte Leser, mit denen ich so vieles durchlebt, denen ich, der an dem unheilbaren Leiden Seele Erkrankte, mich ganz enthüllt habe, bis zum letzten abgebrochenen Schräubchen, bis zur letzten geplatzten Sprungfeder… Ich gehe.

EINTRAGUNG NR. 34

Übersicht: Die Freigelassenen. Sonnennacht. Die Radio-Walküre.

Ach, hätte ich nur mich selbst und alle anderen in tausend Stücke zerspringen lassen, wäre ich nur mit ihr irgendwo jenseits der Grünen Mauer, unter Tieren, die ihre gelben Hauer fletschen, wäre ich nur nie wieder hierher gekommen! Dann wäre mir tausendmal, Millionen Mal leichter. Aber jetzt — was nun? Soll ich sie erwürgen, diese — Doch würde das noch irgend jemandem helfen? Nein, nein, nein! Nimm dich fest in die Hand, D-503. Ergreife den Hebel der Logik mit aller Kraft und drehe gleich einem Sklaven der Alten die Mühlsteine des Syllogismus, bis du alles niederschreibst, was geschehen ist.

Als ich an Bord des Integral ging, waren schon alle auf ihren Plätzen. Durch das gläserne Deck sah ich tief unten neben Telegrafen, Dynamos, Transformatoren, Höhenmessern, Ventilen, Zeigern, Motoren, Pumpen und Röhren winzige Menschen wimmeln. Im Kommandoraum beugten sich die Leute vom Amt für Wissenschaft über Tabellen und Instrumente, neben ihnen stand der zweite Konstrukteur mit seinen beiden Assistenten.

Die drei hatten ihre Köpfe wie Schildkröten eingezogen, ihre Gesichter waren herbstlich-fahl und stumpf.

»Was ist?« fragte ich.

»Ach, nichts weiter…«, antwortete einer von ihnen mit einem grauen, matten Lächeln. »Vielleicht müssen wir irgendwo landen. Wer weiß, was alles passiert. Überhaupt weiß niemand…«

Ihr Anblick war mir unerträglich; ich konnte sie nicht länger ansehen, sie, die ich in einer Stunde mit meinen Händen für immer von der mütterlichen Brust des Einzigen Staates losreißen sollte. Sie erinnerten mich an die tragischen Gestalten der Freigelassenen, deren Geschichte jedes Schulkind kennt. Dieses Epos erzählt davon, wie drei Nummern versuchsweise einen Monat lang von der Arbeit befreit wurden: Tut, was ihr wollt, geht, wohin ihr wollt. (Das war im dritten Jahrhundert nach der Schaffung der Gesetzestafel.)

Die Unglücklichen lungerten in der Nähe ihrer früheren Arbeitsstätte herum und starrten mit gierigen Blicken auf die anderen; sie blieben mitten auf der Straße stehen und vollführten stundenlang jene Bewegungen, die zu bestimmten Tageszeiten bereits ein Bedürfnis für ihren Organismus geworden waren: sie sägten und hobelten Luft, sie bearbeiteten mit unsichtbaren Hämmern unsichtbare Eisenstangen. Am zehnten Tag hielten sie es nicht mehr aus: sie fassten einander bei den Händen und gingen ins Wasser. Unter den Klängen unseres Marsches sanken sie immer tiefer, bis die Wellen ihren Qualen ein Ende machten.

Ich wiederhole: Es war bedrückend für mich, sie anzusehen, und ich ging eilig hinaus. »Ich will nur rasch zum Maschinenraum«, sagte ich und machte mich auf den Weg.

Man fragte mich etwas, ich glaube, wie viel Volt man für die Startexplosion nehmen solle, wie viel Wasserballast wir für die Heckzisterne brauchten. In mir war ein Grammofon, das schnell und genau alle Fragen beantwortete, während ich selber meinen eigenen Gedanken nachhing. Aber plötzlich begegnete mir etwas in dem engen Korridor, und damit fing alles erst richtig an. Graue Uniformen, graue Gesichter huschten vorbei, und eine Sekunde lang sah ich unter ihnen tief in die Stirn hängende Haare und tiefliegende Augen — es war der Mann von damals. Ich wusste, dass sie hier waren und dass es für mich kein Entrinnen gab, mir blieben nur noch zehn Minuten… Ich spürte ein leichtes Zittern im ganzen Körper (es hörte bis zuletzt nicht mehr auf); es war, als hätte man einen riesigen Motor in mich einmontiert, doch mein Körper war zu leicht gebaut, so dass sämtliche Wände, Schotten, Kabel, Balken und Lichter zitterten… Ich wusste nicht, ob sie schon da war. Aber ich hatte keine Zeit, mich zu vergewissern, ich musste zum Kommandoraum zurück; Zeit zum Start — wohin? Graue, glanzlose Gesichter. Drunten auf dem Wasser geschwollene blaue Adern. Ein bleischwerer Himmel, so schwer wie meine Hand, die den Telefonhörer abnahm: »Start — fünfundvierzig Grad!«