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Ich fühlte, wie ich erbleichte; gleich mussten es alle merken… Doch das Grammofon in mir vollführte automatisch die für jeden Bissen vorgeschriebenen fünfzig Kaubewegungen, und ich zog mich in mich selbst zurück wie in ein undurchsichtiges Haus, ich wälzte Steine vor die Tür und verhängte die Fenster …

Dann hielt ich den Telefonhörer in der Hand, und der Flug durch die Wolken in die eisige, sternhelle Sonnennacht begann. Wahrscheinlich lief die ganze Zeit in meinem Inneren ein logischer Motor auf vollen Touren, denn nirgendwo im blauen Raum sah ich mit einem Male dieses Bild: mein Schreibtisch, darauf ein Blatt meiner Aufzeichnungen und darüber die kiemenähnlichen Backen von U. Sie allein konnte uns verraten haben. Schnell in die Funkkabine… Ich erinnere mich, dass ich irgend etwas zu ihr sagte und dass sie durch mich hindurchsah, als wäre ich aus Glas:

»Ich bin beschäftigt. Ich nehme gerade einen Funkspruch von unten auf. Diktieren Sie meiner Kollegin.« Ich überlegte eine Minute und sagte mit fester Stimme: »Zeit: 14.40. Landen! Motoren abstellen. Alles zu Ende.« Wieder im Kommandoraum. Das Maschinenherz des Integral stand still, wir fielen, und mein Herz, das keine Zeit hatte zu fallen, blieb stehen und stieg plötzlich immer höher, bis zur Kehle. Wolken, in der Ferne ein grüner Fleck, er jagte wie ein Sturmwind auf uns zu — gleich ist alles vorüber. — Das porzellanweiße, verzerrte Gesicht des zweiten Konstrukteurs. Ich glaube, er versetzte mir mit aller Kraft einen Stoß. Ich schlug irgendwo mit dem Kopf auf und hörte gerade noch wie durch einen dichten Nebeclass="underline" »Heckmotoren — äußerste Kraft voraus!« Ein jäher Sprung nach oben — was dann geschah, weiß ich nicht.

EINTRAGUNG NR. 35

Übersicht: Ein Reif um meinen Kopf. Eine Möhre. Ein Mord.

Ich habe die ganze Nacht nicht geschlafen. Ich dachte unablässig an ein und dasselbe.

Mein Kopf ist seit meinem gestrigen Unfall fest mit Binden umwickelt. Aber mir ist, als wären es keine Binden, sondern ein Reif, ein schmerzender Reif aus gläsernem Stahl, und ich bewegte mich immerzu in dem gleichen magischen Kreis: Töten! Töten! Töten — und dann zu ihr gehen und sagen: »Glaubst du mir jetzt?« Widerwärtig, dass das Töten ein schmutziges Handwerk ist.

Dieser Gedanke erzeugt in meinem Mund einen abscheulich süßen Geschmack, und ich kann den Speichel nicht herunterschlucken, ich spucke ihn in ein Taschentuch. Mein Mund ist trocken.

In meinem Schrank lag eine schwere Kolbenstange, die beim Gießen geplatzt war (ich wollte die Bruchstelle unter dem Mikroskop betrachten). Ich steckte meine Aufzeichnungen in eine Rolle, schob die Kolbenstange hinein und ging hinunter ins Vestibül. Die Treppe nahm kein Ende, die Stufen waren schlüpfrig und weich, die ganze Zeit musste ich mir mit dem Taschentuch den Mund abwischen.

U war nicht da, ihr Platz war leer. Da fiel mir ein, dass heute jegliche Arbeit ruhte. Alle mussten ja zur Operation. Was sollte sie also hier?

Ich verließ das Haus. Wind. Graue Eisenklumpen wirbelten über den Himmel. Die ganze Welt war in spitze Späne gespalten; sie stürzten herab, hingen eine Sekunde lang vor mir in der Luft und verdampften spurlos. Auf der Straße ein wildes Gewühl. Die Menschen marschierten nicht in Reih und Glied wie sonst, sondern rannten kopflos hin und her. Ich lief, so schnell ich konnte. Plötzlich blieb ich wie angewurzelt stehen: im zweiten Stock eines Hauses, in einem Glaskäfig, der in der Luft zu schweben schien, sah ich einen Mann und eine Frau in enger Umarmung. Ein letzter Kuss, ein Abschied für immer…

An irgendeiner Straßenecke ein schwankender, stachliger Strauch von vielen Köpfen. Darüber knatterte eine Fahne: Nieder mit der Maschine! Nieder mit der Operation! Kann denn auch sie ein Schmerz quälen, von dem man sie nur zu befreien vermag, indem man ihnen das Herz herausreißt? Und müssen sie alle noch etwas tun, bevor man sie heilt? durchzuckte es mich. Einen Augenblick lang existierte nichts mehr auf der ganzen Welt außer meiner behaarten Hand mit der bleischweren Rolle. Da kam mir ein Schuljunge laut heulend entgegengerannt. Ich hielt ihn an und fragte ihn nach U. »Sie ist bestimmt noch in der Schule«, antwortete er, »aber beeilen Sie sich.«

Schnell zur nächsten U-Bahn-Station. Am Eingang rief mir jemand zu: »Heute fährt kein Zug! Dort unten…« Und schon hastete er weiter.

Ich ging die Treppe hinunter. Ein leerer, kalter Zug. Auf dem Bahnsteig eine dichte Menschenmenge. Schweigen. In der Stille eine Stimme. Ich konnte sie nicht sehen, aber das war ihre Stimme, ich kannte sie, ich kannte sie nur allzu gut! Ich schrie: »Lasst mich durch! Platz! Ich muss…« Jemand packte mich an den Armen und hielt mich fest. Die Stimme sagte in schneidendem Ton: »Nein, geht nur hinauf! Dort werdet ihr geheilt, dort werdet ihr mit Glück gefüttert. Ihr werdet satt und zufrieden sein, ihr werdet friedlich schlafen und im Takt schnarchen — hört ihr sie, die große Schnarchsymphonie? Narren, man will euch von allen Fragezeichen befreien, die an euch nagen wie Würmer. Doch ihr steht hier und hört mir zu. Schnell hinauf, zur großen Operation! Was kümmert es euch, dass ich allein hier bleibe? Was geht es euch an, dass ich das Unmögliche will…« Eine andere Stimme sagte:

»Das Unmögliche! Jag du nur deinen törichten Phantasien nach, solange du magst, sie zeigen dir doch bloß den Schwanz. Nein, wir werden ihn packen, diesen Schwanz, und dann…«

»Und dann fresst ihr euch voll und schnarcht und braucht bald einen neuen Schwanz vor eurer Nase. In alten Zeiten gab es ein Tier, das unsere Vorfahren Esel nannten. Um ihn zu zwingen, immer vorwärts zu gehen, immer weiter, banden sie ihm dicht vor den Nüstern ein Bündel Möhren an die Deichsel, und zwar so, dass er es nicht erreichen konnte. Aber wenn er es erwischte, fraß er es mit einemmal auf…«

Plötzlich war ich frei; ich stürzte zur Mitte, wo sie sprach — und im gleichen Augenblick stoben alle auseinander. Von oben ein Schrei:

»Sie kommen, sie kommen!« Das Licht erlosch — offenbar hatte jemand die Leitung durchgeschnitten. Eine Lawine, Schreie, Röcheln, Köpfe, Finger… Ich weiß nicht, wie lange wir durch den stockfinsteren Tunnel gingen. Endlich Stufen, Licht, Helle — wir standen auf der Straße. Die Menge zerstreute sich, ich war allein. Wind, graue Wolken, dicht über meinem Kopf, Dämmerung. Auf dem nassen Straßenpflaster spiegelten sich Lichter, Mauern, Gestalten. Die bleischwere Rolle in meiner Hand zog mich fast zu Boden. U saß immer noch nicht an ihrem Tisch im Vestibül; ihr Zimmer war dunkel.

Ich ging in mein Zimmer und machte Licht. Der Reif um meine hämmernden Schläfen zog sich fester zusammen; ich ging vom Tisch, auf den ich die schwere Rolle gelegt hatte, zum Bett, zur Tür, zurück zum Tisch, als wäre ich in einen magischen Kreis gebannt. Im Zimmer links waren die Vorhänge geschlossen. Rechts — eine höckrige Glatze, die sich über ein Buch beugte: die Stirn — eine riesige gelbe Parabel, die Runzeln darauf — undeutliche gelbe Zeilen. Jedes Mal, wenn sich unsere Blicke begegneten, spürte ich, dass diese Zeilen mir galten… Punkt 21 Uhr. U kam zu mir. Ich atmete so laut, dass ich meinen eigenen Atem hörte; ich versuchte, mich zu beherrschen — es gelang mir nicht. U setzte sich und zog den Rock über die Knie. Die rosa Kiemen zitterten:

»Ach, mein Lieber, Sie sind wirklich verletzt? Ich habe es eben erfahren…«

Die Rolle lag vor mir auf dem Tisch. Keuchend sprang ich auf. Sie hielt mitten im Satz inne und erhob sich gleichfalls. Ich starrte auf jene Stelle an ihrem Kopf und hatte einen widerlich süßen Geschmack im Mund… Das Tuch… Ich fand es nicht und spuckte auf den Boden. Mein Zimmernachbar durfte es nicht sehen. Das würde alles noch verschlimmern… Ich drückte auf den Knopf, obwohl ich kein Recht dazu hatte, aber jetzt war alles gleich. Die Vorhänge schlossen sich.