Hier (ich wiederhole, ich will in diesen Aufzeichnungen die volle Wahrheit sagen), hier wurde ich gleichsam wasserdicht, undurchdringlich für die belebenden Ströme, die dem Lautsprecher entquollen. Plötzlich war mir, als wäre es sinnlos, dass ich hierher gekommen war (wieso sinnlos? Ich musste kommen, ich hatte ja den Befehl erhalten!). Alles erschien mir leer und hohl. Mit großer Mühe gelang es mir, mich wieder zu konzentrieren, als der Phonolektor bereits zum Hauptthema gekommen war, zu unserer Musik, zur mathematischen Komposition (die Mathematik ist die Ursache, die Musik die Wirkung), zur Beschreibung des kürzlich erfundenen Musikometers. »…Man dreht einfach an diesem Knopf und kann bis zu drei Sonaten in der Stunde komponieren. Welche Mühe machte das Ihren Vorfahren! Sie konnten nur dann schaffen, wenn sie sich in einen krankhaften Zustand, in ›Begeisterung‹, versetzten, was nichts anderes ist als eine Form der Epilepsie. Ich gebe Ihnen jetzt ein äußerst komisches Beispiel von dem, was man damals zuwege brachte. Sie hören Musik von Skrjabin, 20. Jahrhundert. Diesen schwarzen Kasten« — der Vorhang auf dem Podium teilte sich, wir sahen ein altmodisches Musikinstrument — »diesen Kasten nannte man damals Flügel, was wiederum beweist, wie sehr ihre ganze Musik…« Was er dann sagte, habe ich vergessen, wohl deshalb, weil… nun, ich will es offen gestehen, weil sie, I-330, zu dem schwarzen Kasten ging. Wahrscheinlich hatte mich ihr unerwartetes Erscheinen auf der Bühne verwirrt. Sie trug ein seltsames Kostüm, wie es damals Mode war, ein enganliegendes schwarzes Kleid; es betonte das Weiß der entblößten Schultern und Brüste und den warmen zuckenden Schatten dazwischen… und ihre blendend weißen, fast bösen Zähne…
Sie lächelte uns zu. Ein bleckendes, beißendes Lächeln. Dann setzte sie sich und begann zu spielen. Es klang exaltiert, wild und wirr, wie alles aus jener Zeit — bar der Vernunft des Mechanischen. Und alle, die hier saßen, hatten recht: sie lachten. Nur einige wenige .. aber warum auch ich… ich?
Ja, die Epilepsie ist eine Geisteskrankheit, ein Schmerz… ein brennender, süßer Schmerz, wie ein Biss, und ich will, dass er tiefer in mich eindringt, dass ich ihn noch stärker spüre. Und da geht langsam die Sonne auf. Nicht unsere Sonne, die mit kristallblauem, gleichmäßigem Schein durch die gläsernen Wände dringt, nein, eine wilde, unaufhaltsam dahinjagende, alles versengende Sonne — nichts mehr bleibt von mir —, alles zerfällt in kleine Fetzen… Die Nummer links von mir sah mich kichernd an. Ich kann mich noch deutlich erinnern, dass an seinen Lippen ein winziges Speichelbläschen hing und zerplatzte. Dieses Bläschen ernüchterte mich. Ich war wieder ich. Wie die anderen hörte auch ich nur noch das wirre, tosende Rauschen der Saiten. Ich lachte, und alles war plötzlich so leicht und einfach. Was war geschehen? Nur dies: Der Phonolektor hatte jene unzivilisierte Epoche heraufbeschworen. Mit welchem Genuss lauschte ich dann unserer zeitgenössischen Musik (sie wurde zum Schluss als Kontrast gespielt). Die kristallenen chromatischen Tonleitern ineinander verschmelzender und sich wieder lösender unendlicher Reihen, die Akkorde der Formeln Taylors und MacLaurins, die schweren Ganztonschritte der quadratischen Pythagorashosen, die schwermütigen Melodien verebbender Schwingungsbewegungen… Welch erhabene Größe! Welch unerschütterliche Gesetzesmäßigkeit! Wie kümmerlich wirkte dagegen die eigenwillige, sich nur in wilden Phantasien ergehende Musik unserer Vorfahren!
Wie sonst gingen alle in Viererreihen durch die breiten Türen des Auditoriums hinaus. Eine mir wohlbekannte, zweifach gekrümmte Gestalt huschte vorüber; ich grüßte respektvoll.
In einer Stunde würde O zu mir kommen. Ich war in einem Zustand angenehmer und zugleich nützlicher Erregung. Zu Hause ging ich sofort zur Hausverwaltung, zeigte mein rosa Billett vor und erhielt die Genehmigung, die Vorhänge herabzulassen. Dieses Recht haben wir nur an Geschlechtstagen. Sonst leben wir in unseren durchsichtigen, wie aus leuchtender Luft gewebten Häusern, ewig vom Licht umflutet. Wir haben nichts voreinander zu verbergen, und außerdem erleichtert diese Lebensweise die mühselige, wichtige Arbeit der Beschützer. Wäre es anders, was könnte dann alles geschehen! Gerade die sonderbaren, undurchsichtigen Behausungen unserer Vorfahren können es bewirkt haben, dass man auf diese erbärmliche Käfigpsychologie verfieclass="underline" »Mein Haus ist meine Burg!«
Um 22 Uhr ließ ich die Vorhänge herunter, und da trat O auch schon ins Zimmer. Sie war ein wenig außer Atem und hielt mir ihr rosiges Mündchen und ihr rosa Billett hin. Ich riss den Talon ab — und dann… Erst im allerletzten Augenblick, um 22.15 Uhr, löste ich mich von dem rosigen Mund.
Ich zeigte ihr meine Aufzeichnungen und sprach von der Schönheit des Quadrats, des Würfels und der Geraden, wobei ich mich exakt und gewählt ausdrückte. Sie hörte schweigend zu, und plötzlich tropften Tränen aus ihren blauen Augen und fielen auf mein Manuskript (Seite 7). Die Tinte färbte sich wasserblau und zerfloss. Ich muss die Seite also noch einmal schreiben. »Lieber D, wenn Sie nur… wenn…«
»Was, wenn?«
Die alte Leier; sie möchte ein Kind haben. Oder ist es vielleicht etwas Neues, weil… weil jene andere… ? Sie ist freilich… Nein, das kann nicht sein, es wäre zu unsinnig.
EINTRAGUNG NR. 5
Wieder drücke ich mich unklar aus, wieder spreche ich mit Ihnen, lieber Leser, als wären Sie — nun, sagen wir, mein alter Schulfreund R-13, der Dichter mit den wulstigen Negerlippen, den alle kennen. Sie aber leben auf dem Mond, auf der Venus, auf dem Mars oder dem Merkur, wer weiß, wo und wer Sie sind.
Also, stellen Sie sich ein Quadrat vor, ein lebendiges, schönes Quadrat. Und es soll von sich, von seinem Leben erzählen. Sehen Sie, dem Quadrat würde es nie einfallen, davon zu sprechen, dass alle seine vier Seiten gleich sind, das sieht es schon gar nicht mehr, so selbstverständlich erscheint es ihm. Ich bin die ganze Zeit in einer ähnlichen Lage. Nehmen wir zum Beispiel die rosa Billetts und alles, was damit zusammenhängt: für mich ist das so selbstverständlich wie die vier gleichen Seiten für das Quadrat, Ihnen jedoch erscheint es vielleicht raffinierter als ein Newtonsches Binom.
Nun, hören Sie zu. Irgendein alter Philosoph hat, natürlich rein zufällig, ein kluges Wort gesagt: »Liebe und Hunger regieren die Welt.« Ergo: um die Welt zu beherrschen, muss der Mensch die Beherrscher der Welt bezwingen. Unsere Vorfahren haben einen hohen Preis gezahlt, um den Hunger auszurotten, ich meine den 200jäh-rigen Krieg, den Krieg zwischen Stadt und Land. Wahrscheinlich hielten die wilden Heiden nur aus religiösen Vorurteilen hartnäckig an ihrem Brot fest. (Dieses Wort wird heute nur noch als Metapher gebraucht, die chemische Zusammensetzung dieses Stoffes ist uns nicht bekannt.) Aber fünfunddreißig Jahre vor der Gründung des Einzigen Staates wurde unsere heutige Naphtha-Nahrung erfunden. Es waren freilich nur 0,2 Prozent der Bevölkerung der Erde übrig geblieben. Doch dafür erstrahlte das von tausendjährigem Schmutz gereinigte Antlitz der Erde in neuem, ungeahntem Glanz, und diese 0,2 Prozent genossen das Glück im Paradies des Einzigen Staates. Es bedarf wohl keiner Erklärung, dass Glück und Neid Zähler und Nenner jenes Bruches sind, den wir Zufriedenheit nennen. Welchen Sinn hätten die unzähligen Opfer des 200jährigen Krieges gehabt, wenn es in unserem Leben noch immer einen Grund zum Neid gäbe? Und doch existiert er noch, da es immer noch »Knollennasen« und »klassische Nasen« gibt (ich erinnere an das Gespräch auf dem Spaziergang), weil viele um die Liebe der einen werben, während um die andere sich keiner kümmert.