Frauen? Sie spielten kaum eine Rolle in seinem Leben. Die Erlebnisse mit ihnen in den Tropen und auf den Schiffsfahrten, sie blieben ohne große Erinnerung. Was Liebe ist, wußte er nicht — man las es am besten in Romanen nach. Dort wurde sie in allen Varianten beschrieben. Die Schriftsteller mußten sie ganz genau kennen, denn sie kamen immer wieder auf sie zurück.
Im täglichen Leben kannte Dr. Perthes nur Reagenzgläser und Kolben; Giftschlangen, die auf Glasplatten bissen und dort ihr Gift abspritzten. Brutöfen und Nährböden mit Giftkulturen, kranke Meerschweinchen oder Kaninchen, die elend zugrunde gingen und denen man, noch halb lebend, das Blut abzapfte.
Wo blieb da die Liebe?
Wo hatte man da noch Zeit, sich unter die streichelnden Hände einer Frau zu begeben? Und wenn man einmal ein Mädchen sah, das so etwas wie Interesse erweckte, dann war bestimmt an dem Abend ein wichtiger Termin oder ein neuer Patient mit Gift im Körper, der einem alle Stimmung für einen romantischen Abend verdarb.
Und da geht man eines Nachmittags spazieren, rettet einem leichtsinnigen Jungen das Leben und lernt dabei eine Kollegin kennen, die einem auf den ersten Blick so etwas wie einen Schleier von der
Seele reißt!
Das ist dumm, aber wahr, dachte Peter Perthes. Ausgerechnet eine Kollegin! Wie sagte doch sein Freund Dr. Sacher einmaclass="underline" »Der Mann, der eine Kollegin heiratet, leidet unter Minderwertigkeitskomplexen!«
Perthes mußte lachen. Er wollte sich eine Zigarette anzünden, als ihn ein Geräusch hinter sich herumfahren ließ. Ein junges Mädchen in einem kurzen Kleid mit einer buntgeblümten Schürze stand hinter ihm im Türrahmen und grüßte ihn freundlich durch Kopfnicken.
«Würden Sie bitte Ihr Jackett ausziehen?«fragte sie.
«Mein Jackett? Ach so — nein, danke.«
Dr. Perthes erhob sich und steckte die nicht angezündete Zigarette wieder ein.»Ich will doch lieber gehen. Ich will dem Fräulein Doktor keine Umstände machen und Ihnen auch nicht, liebes Fräulein. Vielleicht kann man das Jackett doch noch retten. Ich danke Ihnen jedenfalls herzlich.«
Er schaute sich noch einmal in dem gemütlichen Raum um, als wollte er das Bild nicht vergessen; dann nahm er einen Bleistift und schrieb auf den Notizblock:
«Auf Wiedersehen — haben Sie gesagt. Es soll ein wahres Wort werden. Und noch eines: Wenn wir nächste Woche zusammen im Stadion schwimmen gehen, brauchen Sie sich Ihrer Narbe am linken Oberschenkel vor mir nicht zu schämen. P.P.«
Vergnügt pfeifend stieg er die Treppe hinab und winkte auf der Straße einem Taxi.
«Lindenstraße 19«, sagte er und lachte, als ihn der Chauffeur von oben bis unten musterte.»Was, da staunen Sie, nicht wahr? Ich habe eben meine Braut umgebracht, weil sie mich betrogen hat. Schnell, fahren Sie, ehe die Polizei kommt!«Laut lachend stieg er ein.»Wenn Sie mich schnell fahren, erzähle ich Ihnen auch, wie ich sie erdolcht habe.«
Brummend fuhr der Wagen an. Verrückt, dachte der Chauffeur. Wenn der Bursche bloß bezahlt! Man lernt als Taxifahrer doch Typen kennen.
Noch am selben Abend wußte man, wer der verunglückte Junge war.
Es war ein Zufall, der so oft im Leben geschieht, wenn man die Lage als gänzlich unentwirrbar ansieht.
Eine Viertelstunde nach dem Unfall fuhr der Bankdirektor Wolf von Barthey die Fürst-Pückler-Straße entlang, um zu seiner Villa in die Rudolf-Schmitt-Straße zu kommen. Hinter der Ecke sah er mitten auf der Straße einen Roller liegen, den er an dem bunten Wimpel als denjenigen seines Jungen erkannte. Er hielt erschrocken an und erfuhr von den noch umherstehenden Passanten, daß hier vor einigen Minuten ein Junge überfahren worden sei. Man nehme an, daß er wohl inzwischen tot sein würde, denn die Schlagader sei völlig zerfetzt gewesen. Der Junge war schon halb tot, als der fremde Herr ihn in seinem Auto mitnahm, erklärte ein Mann.
Leichenblaß vernahm Wolf von Barthey die verworrenen und aufgebauschten Berichte. Mein Horst, dachte er nur, mein kleiner Horst! Mein Gott, ich darf es Helene nicht sagen. Sie wird einen Nervenzusammenbruch bekommen. Horst überfahren! Tot! Die Schlagader zerrissen. Er lehnte sich gegen die Tür seines Wagens, um nicht umzusinken. Seine Lippen waren blutleer.
«Wo… wo ist der Junge jetzt?«fragte er mühsam.
«Sicher in der Lindenburg«, antwortete einer.»Der Mann war Arzt und hat ihn gleich mitgenommen.«
Die Lindenburg! Wolf von Barthey sprang in seinen Wagen, raste die Straße hinab, brauste hupend um die Ecke und hielt schleudernd vor dem Haupteingang der Klinik. In der Anmeldung erfuhr er, daß tatsächlich ein Junge eingeliefert worden war. Er sei in die Chirurgische Klinik geschafft worden, zu Chefarzt Dr. Sacher.
Man rief dort an und erfuhr, daß der verletzte Junge das Bewußtsein noch nicht wiedererlangt hatte; er bekäme gerade eine Bluttransfusion.
Wolf von Barthey rannte durch die Gänge des Gebäudes, ziellos. In dem großen Garten, in den er gelangte, setzte er sich auf eine weißgestrichene Bank und verbarg das Gesicht in beiden Händen.
Der Bankdirektor weinte.
Zitternd saß er da, ein großer starker Mann, ein Hüne von Gestalt, grauhaarig schon, elegant, gepflegt, reich, Besitzer einer Villa inmitten eines großen Parks, Chef eines bekannten Bankhauses mit vierzehn Filialen.
Und saß da und weinte. Und hätte alles hingegeben, hätte auf alles verzichtet, was bisher den Inhalt seines Lebens ausmachte, wenn er mit seinen Reichtümern das Leben seines Sohnes hätte erkaufen können.
Eine Schwester in Nonnentracht huschte durch den Garten.
«Sind Sie Herr von Barthey?«fragte sie.
«Ja!«Der Bankier schnellte hoch, seine Augen flackerten.»Lebt mein Junge? Ist er tot? Schwester, sagen Sie nicht, daß er tot ist — ich werde wahnsinnig!«Er sank zusammen und schlug wieder die Hände vors Gesicht.»Er ist unser einziges Kind«, stammelte er.
Die Schwester nickte. Sie wirkte hoheitsvoll in ihrer großen, weiten flatternden Haube.
«Ihr Sohn hat gerade das Bewußtsein wiedererlangt. «Sie sprach leise.»Aber er erkennt noch niemand. Wenn Sie ganz leise sind, können Sie ihn kurz sehen.«
Und dann stand Wolf von Barthey neben einer weißen Spannwand und betrachtete das blasse Gesicht seines Sohnes. Die Augen waren groß und gläsern, ohne Erkennen. Der Arm war dick verbunden. Über der schmalen Kinderbrust lag ein elastischer Verband. Kalter Schweiß bedeckte die Stirn des Jungen.
Starr blickte der Vater auf das Bett. Er hielt sich an der weißen Spannwand fest und biß die Lippen aufeinander. Blut tropfte von seinen Lippen, in die sich die Zähne eingruben. Das ist mein Kind, schrie es in ihm. Gezeichnet — ein lebloses Bündel, das mühsam atmet.
Er wandte sich ab, schwankte aus dem Zimmer und fiel auf dem Gang in einen Rohrsessel. Dr. Paul Sacher stand jetzt neben ihm und sah ihn voller Mitgefühl an.
«Es sieht schlimmer aus, als es ist«, sagte er leise und tröstend.»Die Gehirnerschütterung und die Quetschung sind von sekundärer Bedeutung. Mir macht vor allem der Aderriß Sorge. Jeder Kranke mit einer Gehirnerschütterung schläft unruhig. Und der Arm muß jetzt ganz ruhig liegen, sonst platzt die Ader von neuem auf. Wir müssen Tag und Nacht eine Wache zu Ihrem Sohn setzen.«
«Diese Nacht werde ich selbst dasein«, sagte der Bankier und richtete sich auf. In seinen Augen war etwas mehr Mut.»Sagen Sie ehrlich, Herr Doktor, kommt mein Sohn durch?«
«Aber sicher! Es war gut, daß zufällig ein Kollege an der Unfallstelle war und den Arm sofort abgebunden hat. Sonst — «, er stockte,»ich will ehrlich sein — sonst lebte Ihr Sohn bestimmt nicht mehr.«