Noch einmal trat er an die Veranda heran. Abschiednehmend grüßte er das Haus mit der erhobenen Hand — das Haus mit dem schlafenden Freund.
Dann wandte er sich rasch ab und rannte, so gut es seine noch immer ungelenken Beine vermochten, das Ufer entlang, dem schweigenden schwarzen Wald zu.
Hinter dem Moskitodraht stand Dr. Fernando Cartogeno am Fenster. Er blickte Peter nach. Er sah ihn auch zurückkommen, das Haus grüßen — und ihn dann fortrennen. Ein Stich ging durch seine Brust, ein Schmerz, den er noch nie empfunden hatte.
«Gute Reise«, murmelte er und starrte in das Dunkel, das Peter aufgesaugt hatte.»Ich warte auf dich, Peter. Ich werde die Station im Urwald ausbauen. Komm bald zurück.«
Und er wußte schon, als er es noch leise aussprach, daß es ein Selbstbetrug war. Ein Betrug, um sich zu beruhigen. Er riß sich vom Fenster los, warf sich auf das Feldbett, rollte sich in eine Ecke und zwang sich zu schlafen. Da sein Wille allein dafür nicht ausreichte, nahm er ein Schlafpulver und kroch dann unter die Decke.
Jetzt werde ich erfahren, was Einsamkeit ist, dachte er noch. Und ich hatte doch immer solche Angst, allein zu sein.
Dr. Peter Perthes ging durch den Wald. Zapuare lag knapp hinter ihm. Im Schatten der Bäume ging er die Straße entlang bis zu der Stelle, wo sie in den Urwald mündet. Dort zweigte er ab und kroch auf allen vieren in das Unterholz, durch zentimeterhohe, verfaulte Blätter und über morsche, von Lianen erdrückte und gefällte Bäume.
Nach einer knappen Stunde traf er auf einen Tierpfad und lief die enge Gasse durch die grüne, wogende Schlucht hinab. Der Leuchtkompaß zeigte ihm die Richtung. Der Pfad lief auf Raya zu, einer Siedlung östlich des Rio Cada.
Noch hatte er keinen Tarapa gesehen.
Zwei Tage lang hatten die Trommeln in den Wäldern ununterbrochen getönt. Die alten Sammler und Händler von Zapuare machten ernste Mienen. Krieg sollte das bedeuten, meinte man. Die Ta-rapas sammelten sich. Irgend etwas mußte geschehen sein. Eine Stammesfehde oder ein Angriff von außen? Selbst die Indios weigerten sich, zum Kautschukstamm in die Wildplantagen zu gehen.
Jetzt schwieg der Wald. Stolpernd ging Perthes über den Pfad. Seine Beine wurden rasch müde, sie zitterten wieder, wurden weich in den Knien. Er rastete ein wenig, schnitt sich mit der Machete einen dicken Ast ab und gebrauchte ihn als Stock. Auf ihn gestützt ging er weiter… schwankend, mehr tastend als gehend. Schweiß brach trotz der Nachtkühle aus seinen Poren — er achtete nicht darauf, sondern riß sich das Hemd über der Brust auf. Die Karte, naß von Schweiß, knüllte er in die Hosentasche neben einen von seinen Revolvern.
Gegen Morgen, seine Uhr zeigte gerade auf fünf, brach die Sonne plötzlich durch die Wolken, fast ohne Dämmerung. Er stand in einer Schneise, überragt von turmhohen Bäumen, deren Kronen sich wie ein Domdach über ihm wölbten. Unter ihm schwappte fauliger Boden.
Eine Baumtrommel, ganz in der Nähe, dröhnte auf. Mit einem Ruck warf er sich seitwärts in die Lianen, kroch durch schimmeligen, mit Pilzen überwucherten Boden in die Tiefe des Waldes und legte sich hinter einen dicken Baumstamm auf die Blätter. Über ihm lärmten lustige Kolibris und wunderliche, kleine grellbunte Papageie. Kreischend umflatterten sie ihn und retteten sich dann ängstlich auf einen Wipfel.
Den ganzen Tag über lag Peter Perthes hinter dem Baumstamm. Mit zitterndem Herzen hörte er die Kehlkopflaute der Tarapas. Sie liefen kaum hörbar über den schmalen Pfad, den er die Nacht hindurch entlanggezogen war. Auf der Schneise blieben sie stehen, unterhielten sich laut und liefen dann den Pfad weiter, auf Raya zu. Es mußten über 50 Krieger sein. Das Klappern der Pfeile in den Köchern war sehr deutlich zu hören.
Hinter ihm, irgendwo im Dickicht, klang wieder eine Trommel auf. Ihr dumpfer Ton schwang über ihn hinweg. Eng preßte er sich in seinem Versteck an den Boden und wartete, den Revolver in der Hand.
Es geschah nichts. Offenbar hatten sie seine Spur nicht entdeckt. Sie dachten gar nicht daran, ihn zu suchen, weil sie glaubten, er sei noch in Zapuare. Er wußte nicht, daß in dem letzten Abschnitt der Nacht Dr. Cartogeno noch einmal aufgestanden war, die Puppe aus dem Schuppen geholt und mit Peters Anzug bekleidet hatte. Dann war er, mit der Puppe vorn im Boot, hinaus auf den Fluß gerudert.
Wie erwartet meldeten die Trommeln die Abfahrt des weißen Zauberers, den Rio Guaviare hinunter. Befriedigt beorderte Sapolana die Mehrzahl seiner Krieger an den Rio Uva, um die Weißen aufzuhalten. Solange der weiße Zauberer auf dem Strom war, war er dem Großen Häuptling sicher.
Der Tag ging langsam vorüber.
Gegen vier Uhr nachmittags hörte Perthes über dem Blätterdom ein Rauschen und Brummen — ein Flugzeug! Verwundert blickte er empor. Durch die Blätter und Äste konnte er nur ein kleines Stück Himmel sehen. Das Motorendonnern verklang schnell. Über den Pfad rannten andere Tarapas. Die Trommel in seinem Rücken dröhnte wieder.
Krieg! Sie hatten recht in Zapuare. Das Flugzeug, die Trommeln,
Tag und Nacht die rennenden Krieger. Sollten Regierungstruppen die Urwälder durchkämmen? War Wolf von Barthey vermißt oder gar erschlagen worden? Eine heiße Angst kroch in Peter Perthes hoch.
Krieg der Regierungstruppen gegen die Tarapas? Und er allein mitten unter ihnen, gehetzt wie ein Wild, eingekreist mit versagenden Beinen, ohne Kenntnis der Wälder, durch die er flüchten wollte, ausgeliefert den Gefahren der grünen Hölle. So lag er und lauschte.
Wieder das Flugzeug! Es kreiste. Ein unheimliches Krachen erschütterte plötzlich den Urwaldboden. Die Kolibris und Papageie schwirrten kreischend davon. Affenherden flüchteten mit lauten Schreien. Durch das Unterholz brach schnaubend ein Tapir.
Bomben! Bomben auf den Urwald! Bomben auf die Tarapas! Peter Perthes drückte sich an den schützenden Baumstamm. Das Flugzeug kreiste wieder. Sein Motorengeräusch war lauter, surrender geworden. Es flog jetzt tiefer und schwebte dicht über den Baumkronen. Maschinengewehrfeuer erfüllte den grünen Dom.
Über den Pfad liefen wieder Tarapas. Perthes hörte nur ihre Rufe. Die Trommeln in seinem Rücken schlugen wie toll. Weit weg, es war schwer zu schätzen, hörte er die Abschüsse und Einschläge von Artillerie.
Dort schossen die Panzer mit ihren Langrohrgeschützen in die Schneisen und in die Baumkronen, auf denen die Tarapas mit ihren Blasrohren saßen. Krachend zerplatzten die Granaten in den Wipfeln und rissen die Krieger auseinander.
Sapolana war am Cuno Managuare eingetroffen. Sein Gesicht war verschlossen, seelenlos. Er ließ durch seine Trommeln verkünden: Jeder, der mir einen weißen Kopf bringt, erhält von Sapolara, dem Medizinmann, einen Fetisch gegen die nächtlichen Dämonen.
Jubelnd stürzten die Krieger vor, verblutend im rasenden Feuer der Maschinengewehre. Hundert — zweihundert — fünfhundert Ta-rapas fielen.
Der Bankier sah durch den Sehschlitz seines Panzers auf das Morden.»Sie sind wahnsinnig«, sagte er erschüttert.»Ein ganzer Stamm opfert sich für einen einzigen weißen Arzt.«
Und wieder brachen die Panzer vor, und das Feuer der Flammenwerfer schob sich vor ihnen her.
Peter Perthes lag den ganzen Tag über, ohne sich zu rühren. Er trank aus seinen Feldflaschen, aß die harten Kekse und wartete auf die Nacht.
In der Ferne ebbte das Feuer ab. Die Tarapas und die verbündeten Stämme zogen sich zurück. In der Nacht kämpften sie nicht. Die Dämonen der Dunkelheit würden sie vernichten. Wie alle Naturvölker hatten sie eine heilige Scheu vor dem Dunkel. Sie schlugen sich seitwärts in die Wälder und zogen sich an geschützten Stellen in kleinen Lagern zusammen. Kein Feuer verriet sie. Sie schliefen auf der Erde oder in den Bäumen wie Jaguare.
Gegen zwölf Uhr nachts brach Peter auf. Er schlich auf den Pfad zurück und humpelte ihn, auf seinen Stock gestützt, weiter. In seinen Gliedern lag es wie Blei. Sein Puls klopfte, als wollten die Adern zerreißen.