Weiter, nur weiter! Dem Schießen entgegen! Den Leuchtkugeln, die über den Bäumen standen.
In der Rechten den Stock, in der Linken einen Revolver, so stolperte er durch den Wald. Hinter einer Biegung des Pfades hörte er Gemurmel. Er warf sich zu Boden und kroch in das Unterholz, unter armdicken Lianen hindurch. So umging er ein kleines Lager, und so traf er nach drei Stunden mühseliger Kriecherei, zerschunden, zerkratzt, am Ende seiner Kräfte, wieder auf den schmalen Pfad.
Die Trommeln im weiten Umkreis begannen von neuem ihr dumpfes, schauriges Konzert. Sie verkündeten Sapolana und den kämpfenden Tarapas die Freudenbotschaft: Der weiße Zauberer ist in der Nacht den Rio Inirida hinaufgefahren. Umari hat ihn gesehen. Er saß vorn im Boot und fing eifrig Nachtfische. Der weiße Zauberer wird in den Wäldern bleiben. Haltet nun die Weißen auf..
Peter hetzte durch den Wald. Im Rücken wußte er die Lager der Tarapas. Vor sich sah er die Leuchtkugeln der Regierungstruppen. Ein Hubschrauber warf Leuchtschirme, die langsam zur Erde schwebten und zischend in den feuchten Kronen der Urwaldriesen verlöschten.
Die Beine wurden schwerer und schwerer. Sie schleppten beim Gehen nach. Der dicke Stock wurde erneut zur Krücke. Ächzend blieb Perthes in kürzeren Abständen stehen und lehnte sich haltsuchend an die glatten, harzigen Stämme. Seine Brust hob sich in schweren Stößen auf und nieder.
Durchhalten! rief er sich zu. Nur jetzt nicht liegen bleiben. Dort kommen sie. die Freunde, die Befreier, die Retter. Nicht hinlegen, Peter, nicht schlafen… es würde dein Tod sein.
Weiter, nur weiter. wenn auch die Beine brennen, wenn das Blut auch kocht, wenn es vor den Augen flimmert. Morgen oder übermorgen kannst du schlafen… eine Woche lang, zwei Wochen… solange du willst! In einem weißen Bett unter weichen Federn, die sich an die gequälte Haut schmiegen werden. Kühl und doch wärmend.
Weiter.
Er kroch auf allen vieren durch den Wald. Er fiel in vermodernde Blätterberge, wälzte sich über Baumstämme und mannsdicke Lianen. Luftwurzeln hemmten seinen Weg, tückische Querwurzeln, flach und kaum sichtbar über dem Boden liegend, stellten ihm ein Bein.
Er fiel aufs Gesicht, schlug sich die rechte Wange auf, das Blut rann den Hals hinunter über die keuchende Brust.
Weiter. weiter.
Wie ein Tier kroch er, vorwärts schnellend, Raum gewinnend, kräftesparend. Den dicken Stock schleifte er hinter sich her. Wenn er dann wieder gehen konnte, richtete er sich an ihm auf und taumelte weiter über den schmalen Weg, verbissen, mit glasigen Augen, die beinahe schon leblos geradeaus starrten.
Plötzlich stellte sich ihm eine Schlange in den Weg. Auf ihrem Schwanzstück sitzend, züngelte sie und wiegte mordlustig den Kopf hin und her. Er wagte nicht zu schießen. Er griff seinen Knüppel fester und hieb auf den flachen, scheußlichen Kopf..
Er hieb noch, als die Schlange zermalmt am Boden lag und der Leib sich sterbend aufbäumte. Tot! schrie es in ihm. Tot — alles, was sich mir entgegenstellt. Und er hieb und hieb auf die Schlange, bis
sie unkenntlich am Urwaldboden lag.
Dann taumelte er weiter, den Stock mit dem Schlangenblut in der Hand. Die aufgerissene Wange schmerzte, der Rucksack auf dem Rücken wurde zentnerschwer. Nicht wegwerfen, sagte er sich vor, und wenn er noch so schwer wird — nicht wegwerfen! Die Medikamente sind darin, das Essen, die Feldflaschen. Er lehnte wieder an den Bäumen und verschnaufte. Seine Beine waren gefühllos. Blut tropfte jetzt auch aus den aufgesprungenen Wunden beider Füße.
Weiter. weiter. weiter.
Wieder ein Lager der Tarapas. Von neuem mußte er auf dem Bauch durch den dichten Busch kriechen, durch faulige Blätter und das Aas krepierter Tiere. Seine Handflächen riß er an den Dornen wund, sein Körper wurde zu einem Brand blutender Haut. Er riß sich das Hemd von der Brust und umwickelte seine Hände mit den Fetzen. Dann packte er wieder den Knüppel fest und hetzte vorwärts.
Die Leuchtkugeln kommen näher. Das Gewehrfeuer wird lauter.
Nicht anhalten — nicht müde werden!
Im Rücken folgt dir der Tod!
So kam der Morgen. Peter Perthes lag in einer Erdmulde unter Lianen und Blättern, zugedeckt mit den Rinden verschimmelnder Bäume. Er war der Erde gleich geworden. Erschöpft, am Ende aller Kräfte schlief er ein.
Geweckt wurde er durch die Dunkelheit. Um ihn war wieder einmal das rasende Konzert der Baumtrommeln. Er achtete schon nicht mehr darauf, kroch aus seinem Versteck und schwankte an seinem Stock weiter.
Ein Fluß trennte seinen Weg. Er warf einen leichten Baumstamm ins Wasser, zerrte ihn mit der Kraft der Verzweiflung ans Ufer und klammerte sich daran fest. Er dachte nicht an die Piranhas, an die Giftrochen. Er schwamm, an den Stamm geklammert, durch den schmalen Fluß.
Unverletzt kam er am anderen Ufer an und kletterte die Böschung hinauf. Er wusch sich das Gesicht, die Hände — umwickelte sie von neuem mit den Hemdfetzen und stolperte weiter.
Es geht nicht mehr! schrie es in ihm. Wirklich, es geht nicht mehr. Mein Gott, hab Erbarmen mit mir, hilf mir. hilf mir.
Nun versagten seine Beine endgültig. Der Stock war eben doch keine Krücke, er konnte den Körper nicht aufrecht halten. Da warf er ihn fort und kroch auf allen vieren durch den Wald. Tierhaft stemmte er sich vorwärts, seine Kraftreserven waren unheimlich, sein Lebenswille stark wie je.
Und er kam vorwärts… Meter um Meter… jeder krallende Griff in den feuchten Boden brachte ihn der Freiheit, der Erlösung näher.
Immer noch dröhnten um ihn die Trommeln. Er lag seitlich in dem Lianengestrüpp, wenn die Tarapas vorüberliefen. Er hielt den Atem an, den Revolver immer noch in den blutenden, umwickelten Händen.
Man entdeckte ihn nicht. Die Krieger liefen jetzt in entgegengesetzter Richtung. Sie kamen ihm entgegen. Dann war es still um ihn… er war allein im Wald mit Kolibris, Trompetervögeln, Papageien und Affen.
Und wieder ging es weiter. Kriechend, keuchend, an den Boden gedrückt, als fände er bei jedem Tasten neue Kraft. Urkraft, das Ziel zu erreichen.
Der Tag kam. Er sah die Sonne durch die hohen Baumkronen brechen, und er kroch weiter. Ein kleiner Mensch in dem riesigen Wald — im Rücken die Tarapas, vor sich die Freunde —, ein kleiner Mensch an der Grenze seines Willens, seiner Kraft.
Die Uferstraße des Rio Cada, ein Pfad nur, lag plötzlich vor ihm. Mit einem Aufschrei erreichte er den Weg und kroch ihn entlang. Die Heimat! hämmerte es in ihm. Die Straße nach Deutschland! Helft mir, Freunde, helft mir… ich kann nicht mehr.
Weinend preßte er das Gesicht in das dichte Gras. Die Nerven versagten, Schluchzen schüttelte ihn. aber der Körper kroch weiter. Kroch weiter. ein blutendes Tier, das Rettung wittert.
Den Rio Cada entlang donnerten die Panzer. Sie zermalmten die Sperren der Natur, schossen Störfeuer voraus, um die Wilden zu
verjagen.
Wolf von Barthey, am Sehschlitz des Turmes, hatte die Tarapas tapfer sterben sehen, und jetzt zitterte er um den Freund, der allein der Rache der Wilden ausgeliefert war.
«Halt!«rief da der Panzerführer durch das Kehlkopfmikrofon. Das Maschinengewehrfeuer schwenkte ein, vor ihnen auf dem Weg lag ein Mensch!
Er rührte sich nicht. Langsam fuhr der Panzer näher. Und plötzlich schrie der Bankier auf, riß die Luke auf und sprang, alle Vorsicht vergessend, auf die Erde. Er stürzte auf den liegenden Körper zu, nahm ihn in seine Arme und trug ihn den Soldaten zu, die ihm entgegengerannt kamen.
«Dr. Perthes!«schrie er.»Er ist es! Peter, mein Junge.«
Wolf von Barthey drückte den Kopf des Ohnmächtigen fest an sich, den blutenden, menschenunkenntlichen Kopf.
Schon raste ein Sanitätswagen heran; Ärzte, in weißen Kitteln über den Uniformen, beugten sich über den zerschundenen Körper.
Auf weißen Tüchern, über das hohe Ufergras gebreitet, zogen sie Dr. Perthes die zerfetzten Kleidungsstücke aus und wuschen die Wunden. Sie gaben Spritzen und legten Verbände an. Dann wurde der deutsche Kollege auf eine Bahre gebettet und in den Wagen geschoben.