Wolf von Barthey wich nicht von seiner Seite — er kletterte mit in den Wagen und hielt die verbundene Hand des Ohnmächtigen.
Die Panzerwagen drehten um und deckten den Rückzug der anderen Truppen — ihre Aufgabe war erfüllt.
Fern, ganz fern, dröhnten die Trommeln.
Dr. Cartogeno ruderte nach Zapuare zurück, vor sich im Kanu immer noch die Puppe.
Und Umari meldete seinem Häuptling: Der weiße Zauberer kehrt nach Zapuare zurück! Wir haben unseren Kampf gewonnen! Er bleibt bei uns.
Als Sapolana die Wahrheit erfuhr, war Peter Perthes schon in Bogota und lag in einem weißen Klinikbett.
Grell schrie der Große Häuptling auf und riß sich die Fetische vom Körper.
In einer hellen Nacht starb stumm, an einem Pfahl lebendig über einem Feuer röstend, Umari für seinen Irrtum.
Dann schwieg der Urwald. Riesenhaft, unerforscht, ein Meer von wogenden Wipfeln lag er unter der sengenden Sonne.
Die Tukane pfiffen, Kolibris gaukelten graziös über die Flüsse. Der Tapir brach in die Ufer und trank das klare Wasser. Orchideen öffneten ihre Kelche und zeigten die Wunderpracht der eingefangenen Sonnenstrahlen.
Die Urzeit lebte wieder. Wie eine Sage wog es um den Wald: Die Sage von der Erdenmutter Nungüi.
In seinem Haus in Zapuare saß Dr. Cartogeno und wartete auf die Rache Sapolanas. Die Gewehre lagen schußbereit unter den Fenstern des Hauses.
Aber der kolumbianische Arzt hörte nie mehr etwas von dem Großen Häuptling.
Kapitel 15
Die Rückkehr des Dr. Perthes aus der grünen Hölle Kolumbiens löste in Köln große Freude aus. Professor Window fuhr selbst nach Bremerhaven, um den Freund zu empfangen. Die Kunde seiner wundersamen Errettung und Heilung flog ihm voraus.
Vertreter von Presse und Rundfunk standen am Hafen, um den berühmten Arzt zu interviewen. Eine Abordnung des Hamburger Tropeninstituts war erschienen, um ihm die Ehrendoktorwürde zu verleihen.
Sie alle wurden sehr enttäuscht. Sosehr Wolf von Barthey auch bettelte, den Beleidigten spielte und mit dem Entzug seiner
Freundschaft drohte, Dr. Perthes ließ sich nicht davon abhalten, bereits in Southampton an Land zu gehen und das Schiff mit dem Bankier allein nach Deutschland fahren zu lassen.
Er wollte nur Stille. Keine Ehrungen, keine Reden, keine Preisverleihungen und sonstiges, selbst nicht ein Wiedersehen mit alten Freunden konnte ihn reizen. Allein, im Zwiegespräch mit sich selbst, wollte er den Heimatboden betreten. Ganz wollte er für sich das herrliche Gefühl auskosten, wieder zu Hause zu sein.
Aber es sollte keine besinnliche Ruhe werden, die Suche nach dem Unbekannten, der das heilende Serum entdeckt und nach Zapuare geschickt hatte, stand im Mittelpunkt allen Denkens. An einem regnerischen Abend landete er in Hamburg. Unbekannt, unerkannt, einer der vielen Menschen, die jede Woche von England herüberkommen. Er ging, trotz des Regens, zu Fuß durch den dunklen, naßglänzenden Hafen, vorbei an den alten Fischerkneipen und modernen Bars, in denen rasch verdientes Geld noch rascher ausgegeben wurde. Er ging, seinen Koffer in der Hand, auf einen Stock gestützt, langsam die Reeperbahn entlang, den Jungfernstieg und dann das Alsterufer.
In tiefen Atemzügen trank er die Luft. Deutsche Luft, dachte er. Herb, kühl und rein. Er dachte an die heißen feuchten Tage von Amorua, an die brennende Sonne und den faulenden Urwald. Während er an einer Brücke lehnte, die die Seitenarme des Hafens miteinander verbinden, mußte er plötzlich an Dr. Cartogeno denken.
Allein fuhr der jetzt den Rio Guaviare hinab zur Impfstation am Lago Jiro. Ihm mußte der Abschied besonders schwer geworden sein. Er war zu einem Freund geworden, wie er selten zu finden ist. Ein Wort des Aristoteles fiel Dr. Perthes ein: Ein Freund ist eine Seele in zwei Körpern. Ob ihm Fernando seine Rückkehr in die Heimat verübelt hatte?
Im Hafen gellten die Sirenen. Das Tuten der Schleppkähne durchriß die Nacht. Hellerleuchtete Boote furchten durch das brackige, ölige Wasser. Wie Totenfinger stachen die Stahlleiber der Riesenkräne in den Sternenlosen Himmel.
Zu Hause! Und ihn fröstelte.
Er zog seinen Wettermantel fester um die Schultern und knöpfte den obersten Knopf zu. Dann wandte er sich ab und stieg in eine Straßenbahn, die ihn zum Bahnhof brachte.
Er studierte die Fahrpläne nach Süddeutschland: Hannover — Kassel — Frankfurt/Main — Würzburg — Bamberg — Erlangen! Eine Fahrt durch ganz Deutschland, von Norden nach Süden, lag vor ihm.
In einem kleinen Studentenhotel in einer Nebengasse des Hauptbahnhofs übernachtete er. Mit dem Fernschnellzug — um sieben Uhr morgens ab Hamburg — fuhr er mitten hinein ins deutsche Land.
Er saß am Fenster und las in Illustrierten, die er gekauft hatte. Nach einem Jahr wieder deutsche Zeitungen! Berichte über die Sorgen, über die Freuden seiner Landsleute.
Es las über Politik, die ihm ganz fremd geworden war. Ihn kümmerte das Bonner Parlament nicht, nicht die kleinlichen Streitigkeiten über Ausschüsse und Gesetze. Im Urwald galt als einziges Gesetz die Kraft des eigenen Willens. Hier galt noch der Mann — und nicht ein Fetzen monatelang durchgekauten, beschriebenen Papiers.
Er blätterte die Seiten um — Schönheitskonkurrenzen!
Miß Badestrand wird gewählt. Miß Rheinwein. Miß Ferienfreude… Mädchen mit gefrorenem Lächeln, in knappen Bikinis. Fleischschau unter dem Motto der Schönheit.
Er schüttelte den Kopf und dachte an die nackten Tarapasfrau-en, die er gesehen hatte. Bunt bemalt, mit durchstochener Unterlippe und Federn in den entstandenen Löchern — groß, kräftig, gesund, natürlich! Wenn sie lachten, war es, als ob der uralte Wald mitkicherte. Es waren noch Kinder Gottes — hier auf den Fotos lachten Kinder eines zivilisierten Geschäfts.
Er blätterte um. Butterpreise steigen. Trinkt mehr Milch! Warum sind die Eier noch so teuer? Er mußte lächeln. Die alten Sorgen, es änderte sich nichts. Sie bleiben immer die gleichen, die deutschen Brüder. Einigkeit und Recht und Freiheit.
Er legte die Blätter beiseite und sah aus dem Fenster. Die Sonne brach durch die Regenwolken, in langen Streifen irrte das Licht über die Felder.
Bauern, mit Ochsen an holzachsigen Wagen, fuhren durch die aufgeweichten Wege. Auf einer glatten Autostraße rasten Kolonnen von chromblitzenden, eleganten Wagen mit dem Zug um die Wette.
Als sich Schiene und Straße näherten, winkten sie Peter zu — frohe, gesunde Menschen, in Lederpolstern sitzend, umgaukelt von den Klängen aus dem Autoradio.
Das ist meine neue Welt, dachte Peter Perthes. Er winkte nur zaghaft zurück. Ich lebte auch einmal in ihr — damals! Ich habe selbst ein Auto besessen und bin so wie sie durch die Welt gefahren.
Dann aber kam der Urwald, und ich wurde wieder zu nichts als einem Menschen, der sein nacktes Leben beschützen muß. Und ich fühlte mich freier, wohler, menschlicher.
Hannover: ein Babel aus Trümmern und weißen Neubauten! Der Bahnhof ein Riesengerippe aus Stahl. Servicewagen wurden den Bahnsteig entlanggefahren und Erfrischungen angeboten.
Dr. Perthes trank eine Tasse Kaffee. Vor den Zugtüren stauten sich die Menschen. Sie hatten keine Zeit, sie stießen sich, traten, schimpften, schoben, boxten und drängten. Eine Frauenstimme schrie. Eine laute Männerstimme bewies einen erklecklichen Wortschatz an unflätigen Ausdrücken.
Deutsche Brüder, deutsche Schwestern.
Im Urwald hätten sie Zeit, dachte Peter. Wenn die Regenzeit kommt, könnten sie wochenlang unter einem Blätterdach sitzen und von Wurzeln leben. Sie würden das Regenwasser in Zeltplanen auffangen und trinken.
Zeit? Eine Uhr? Wer achtet darauf?