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Es regnet — tagelang, wochenlang. und man kann warten, man hat Zeit.

Der Zug ruckt wieder an. Keuchend rollt er aus Hannover hinaus. Er fuhr Göttingen, der alten Universitätsstadt, entgegen. Saubere schmucke Bauernhäuser flogen vorbei, gepflegte Felder, kräftiges buntes Vieh. Durch kleine verschlafene Bahnhöfe raste der Schnellzug. Ab und zu winkte ein Mann in der blauen Uniform der

Bundesbahn.

Durch die Gänge des Wagens lief ein Kellner der Mitropa und bot Reiselektüre und Sprudel an. Die Sonne schien jetzt grell in den Wagen. Es wurde warm.

Göttingen. Der Zug hielt hier nur kurz. Auch hier Trümmer.

Mein Gott, dachte Peter Perthes, ich habe gar nicht mehr gewußt, wie zerstört meine Heimat ist. Ich habe drüben in Kolumbien in Bogota nur weiße Paläste gesehen. Und in Zapuare Blockhütten unter Riesenbäumen, strotzend von Kraft und Gesundheit. Aber Trümmer?

Er preßte den Kopf an die Scheibe, während der Zug weiterrollte.

Die Dörfer wurden lichter, auch hier sah man wiederaufgebaute Häuser.

Dann Kasseclass="underline" eine einzige Anklage. Schwarze, ausgebrannte Hausruinen. Straßen und ganze Stadtteile eingeebnet. Überwuchert von Unkraut, von Brennesseln, wilden Möhren und struppigem Gras.

Durch den Staub der Straßen liefen die Menschen, und sie sahen die Ruinen nicht mehr. Der Blick eines Menschen gewöhnt sich schnell an seine Umgebung.

Aber er kam von draußen wieder, er sah die Trümmer der Heimat überscharf. Und das Herz krampfte sich ihm zusammen.

Hinter Kassel schlief er ein, übermüdet, niedergedrückt vom Schauen. Erst in Frankfurt schrak er wieder hoch.

Der Zug fuhr in den Sackbahnhof ein und wurde in Kurswagen eingeteilt. Perthes stieg aus und bummelte an den Läden in der Bahnhofshalle vorbei. Er bestaunte die bunte, reichhaltige Auslage. Ein Jahr kann einen Menschen völlig entwöhnen, dachte er plötzlich erschreckt. Er stand vor einem Parfümerieladen und starrte lange die verschiedenen Cremes, Seifen und Parfüms an. Lavendel, Kölnisch Wasser, Juchten.

Mit Suprana rasiert — der halbe Tag gewonnen. Am Rio Guavia-re trug er einen langen, blonden Vollbart — dann rasierte ihn Fernando mit einem alten Rasiermesser, eingeseift mit einfacher Kern-seife. Wunde Haut? Ach was, sie mußte sich daran gewöhnen!

Ich gehöre ja gar nicht mehr hierher, durchzuckte es ihn. Bei allem, was ich sehe, was ich lese, muß ich an den Urwald denken! Alles hier kommt mir so fad, so dumm, so hochgezüchtet vor. Ist das denn noch der Mensch, von dem Gott sagte, er solle nach seinem Ebenbild sein? So verweichlicht, so im Treibhaus lebend, so bar aller Natur.?

Perthes setzte sich in den Wartesaal zweiter Klasse und trank ein Pilsner. Auf den Gleisen rangierten lärmend die Wagen. Er hatte noch eine Stunde Aufenthalt.

Mit einem Spaziergang durch die Geschäftsstraßen Frankfurts füllte er sie aus. Im letzten Augenblick erreichte er noch seinen Zug. Dann ratterte er weiter.

Am späten Abend traf er in Erlangen ein. In einem Hotel am Bahnhof mietete er sich ein und ließ sich vom Kellner einen genauen Stadtplan geben. Auf ihm kreuzte er die Straßen und Gebäude an, die er besuchen wollte:

Universität — Universitätsklinik — die Laboratorien — Polizeipräsidium — Einwohnermeldeamt — die Privatwohnung des Rektors der Universität.

Er legte sich dann sofort ins Bett und schlief traumlos bis in den nächsten Morgen hinein.

Mit dieser Reise begann der große Fehler von Dr. Perthes' Rückkehr in die Heimat.

Durch seine heimliche Einreise von England aus verpaßte er eine Aussprache mit Professor Window und Dr. Paul Sacher in Köln. Da hätte er erfahren, daß Angela nicht mehr in Erlangen war. Er wußte ja überhaupt nicht, daß sie einmal in dieser Stadt gelebt hatte. Er kannte ja Erlangen vor allem von dem Deckel eines kleinen Paketes.

Wolf von Barthey hatte ihm gesagt, daß er und die Kölner Freunde nicht wüßten, wohin Dr. Angela Bender gegangen sei — diese Aus-kunft war für Peter maßgebend.

Angela Bender aber war, nach der Ausheilung ihres Nervenfiebers, zu einer kleinen Nachkur in die Alpen gefahren und hatte von Schöllang aus ihren Dienst in der Erlanger Klinik gekündigt.

Als Professor Purr, außer sich und vor neuen Rätseln stehend, mit dem nächsten Zug am Nebelhorn eintraf, war Angela bereits aus ihrer Pension ausgezogen und hatte nicht hinterlassen, wohin sie gefahren war. Die kleine Wohnung in Erlangen hatte sie mit allem Mobiliar verkauft. Den kleinen Peter hatte sie überall mitgenommen.

Nun stand Professor Purr verwirrt auf dem Marktplatz von Schöllang. Wieder breitete sich ein Dunkel um Angela Bender. Auch Dr. Sacher in Köln, dem Purr sofort diese neue Situation mitteilte, schüttelte den Kopf. Zu Professor Window meinte er:»Seit Peter fort ist, stimmt etwas mit Angela nicht mehr. Ich mache mir große Sorgen um sie. Sie scheint nicht zu wissen, was sie eigentlich will. Sie ist nirgends mehr so recht zu Hause. Sie irrt umher und sucht sich selbst. Sie scheint völlig aus der Bahn des täglichen Lebens geworfen worden zu sein. Ein armes Mädchen, das man nicht allein lassen sollte.«

Aber die Tatsachen sprachen eine andere Sprache. Angela Bender wußte sehr wohl was sie wollte. Sie tauchte unter, entzog sich den Blicken und Nachfragen ihrer Freunde und lebte in der Stille ein Leben der Beschränkung — nur für das Kind und sich.

Und diese Stille suchte sie nicht auf dem Land, wie man hätte meinen können, sondern mitten in der Großstadt, wo der einzelne Mensch einsamer ist als auf einer Insel im Meer. In einem großen, hohen Haus, in einer Enge von wenigen Zimmern, grau in der Grau-heit der Masse Mensch ist er nichts als ein Punkt unter der Sonne.

Angela Bender zog nach München.

Zuerst wohnte sie in der Kaufinger Straße, mit einem Blick auf die hohen Zwiebeltürme der Frauenkirche, und Tag und Nacht brandete der Großstadtverkehr vor ihren Fenstern vorbei.

Autokolonnen von der Sendlinger zur Theatinerstraße, vom Marienplatz zum Karlsplatz. Eingebaut in Türme, starrte sie aus dem Fenster. Die Türme der Frauenkirche, der Turm des alten Rathauses, der Turm der Peterskirche, der hohe Giebel der Michaelskirche. Steine, Asphalt, Teer, Lärm, Staub, Gedränge von schwitzenden Menschen, Auspuffgase, Schreien, Hupen, Johlen.

Nach einem Monat zog sie um, nach Gauting, in ein schönes, mitten im Garten liegendes Häuschen, zu dessen Tür drei breite Stufen hinaufführten. Ein Weg durch Blumenbeete und weißen, schillernden Kies.

Hier fand sie drei Zimmer; die Besitzerin des Hauses war eine Landgerichtsratswitwe, die glücklich war, daß junges Leben in ihre stillen Räume zog, und die lange gesucht hatte, bis sie eine ihr angenehme Mieterin gefunden hatte.

Wenn auch der Atem der Großstadt bis hierhin wehte, Angela lag im Garten im Liegestuhl, Blumen rings um sich, und las in einem Buch, den Kinderwagen mit dem krähenden Peter neben sich. Hier atmete sie nur den Blütenduft und den Geruch der in der Sonne schwitzenden Bäume und dachte nicht an die Autos, die vor dem weißen Tor brummend über den Asphalt rollten.

Hier, in Gautin vor München, am Rande der brodelnden Großstadt, begründete sie eine neue Praxis. Da im Umkreis noch eine Kollegin praktizierte, bekam sie keine Krankenkassenzulassung, sondern war nur auf den recht spärlichen Besuch von Privatpatienten angewiesen.

Aber es reichte fürs tägliche Leben, sie ernährte sich und das Kind und war es zufrieden, daß sie manchmal an einem Tag nur zwei oder drei Kinder zu behandeln hatte, meist leichte Fälle von Mandelentzündung oder Windpocken.

So erholte sich Angela, blühte von neuem auf, bekam vollere Wangen, und die Blässe ihres Gesichts wich einer zarten Röte der Gesundung.

Das Leben ging weiter. Ohne Köln. Ohne Erlangen.

Und auch ohne Peter Perthes.

Und der konnte das alles nicht wissen, als er in seinem Hotelzimmer in Erlangen saß und seine Pläne zur Auffindung des geheimnisvollen Absenders der zehn rettenden Ampullen entwickelte.