Adalbert Stifter
Witiko
Seinen Landsleuten insbesondere der alten ehrwürdigen Stadt Prag widmet diesen Dichtungsversuch aus der Geschichte seines Heimatlandes mit treuer Liebe
Vorwort
In meiner Kindheit traten mir schon öfter Spuren eines Geschlechtes entgegen, das im mittäglichen Böhmen gehaust hat, und in der Erinnerung und in den Erzählungen des Volkes fortlebte. Als Jüngling ging ich diesen Spuren nach, und habe manchen Tag in den Trümmern der Stammburg dieses Geschlechtes zugebracht. Hierauf strebte das Ding sich in verschiedenen kindischen Versuchen dichterisch zu gestalten. Später fand sich, begleitet von mancher Unterbrechung und Wiederaufnahme, etwas Ernsteres zusammen, und ging in jüngster Zeit der Vollendung entgegen, welche Vollendung wieder durch ein langes Unwohlsein aufgeschoben wurde. Da gaben mir Freunde den Rat, vorerst den Beginn des Werkes vorzulegen, was hiemit geschieht. Wie weit dieses ersprießlich ist, sei einem glimpflichen Urteile anheim gestellt. Mögen die Männer der Geschichte, wenn einige aus ihnen die folgenden Blätter einer Durchsicht würdigen, nicht zu viel Unrichtiges in ihnen finden, und die Männer der Dichtung nicht zu viel Unkünstlerisches, und mögen, wenn mir Gott die Beendigung meines Unwohlseins und eine neue erhöhtere Kraft schenkt, die folgenden Bände besser gelingen als dieser erste.
Linz, im Christmonate 1864
Erster Band
1. Es klang fast wie Gesang von Lerchen
Am oberen Laufe der Donau liegt die Stadt Passau. Der Strom war eben nur aus Schwaben und Bayern gekommen, und netzt an dieser Stadt einen der mittäglichen Ausgänge des bayerischen und böhmischen Waldes. Dieser Ausgang ist ein starkes und steiles Geklippe. Die Bischöfe von Passau haben auf ihm eine feste Burg gebaut, das Oberhaus, um gelegentlich ihren Untertanen Trotz bieten zu können. Gegen Morgen von dem Oberhause liegt ein anderer Steinbühel, auf dem ein kleines Häuslein steht, welches einst den Nonnen gehörte, und daher das Nonngütlein heißt. Zwischen beiden Bergen ist eine Schlucht, durch welche ein Wasser hervorkömmt, das von oben gesehen so schwarz wie Tinte ist. Es ist die Ilz, es kömmt von dem böhmisch-bayerischen Walde, der überall die braunen und schwarzen Wässer gegen die Donau sendet, und vereinigt sich hier mit der Donau, deren mitternächtliches Ufer es weithin mit einem dunkeln Bande säumt. Das Oberhaus und das Nonngütlein sehen gegen Mittag auf die Stadt Passau hinab, die jenseits der Donau auf einem breiten Erdrücken liegt. Weiter hinter der Stadt ist wieder ein Wasser, das aus den fernen mittäglichen Hochgebirgen kömmt. Es ist der Inn, der hier ebenfalls in die Donau geht, und sie auch an ihrer Mittagsseite mit einem Bande einfaßt, das aber eine sanftgrüne Farbe hat. Die verstärkte Donau geht nun in der Richtung zwischen Morgen und Mittag fort, und hat an ihren Gestaden, vorzüglich an ihrem mitternächtigen, starke waldige Berge, welche bis an das Wasser reichende Ausgänge des böhmischen Waldes sind. Mitternachtwärts von der Gegend, die hier angeführt worden ist, steigt das Land staffelartig gegen jenen Wald empor, der der böhmisch-bayerische genannt wird. Es besteht aus vielen Berghalden, langgestreckten Rücken, manchen tiefen Rinnen und Kesseln, und obwohl es jetzt zum größten Teile mit Wiesen, Feldern und Wohnungen bedeckt ist, so gehört es doch dem Hauptwalde an, mit dem es vielleicht vor Jahren ununterbrochen überkleidet gewesen war. Es ist, je höher hinauf, immer mehr mit den Bäumen des Waldes geziert, es ist immer mehr von dem reinen Granitwasser durchrauscht, und von klareren und kühleren Lüften durchweht, bis es im Arber, im Lusen, im Hohensteine, im Berge der drei Sessel und im Blöckensteine die höchste Stelle und den dichtesten und an mehreren Orten undurchdringlichen Waldstand erreicht. Dieser auch jetzt noch große Wald hat in seinen Niederungen vornehmlich die Buche, höher hinauf das Reich der Tanne und des ganzen Geschlechtes der Nadelhölzer, und endlich auf dem Grate der Berge auch oft Knieholz, nicht der Berghöhe, sondern der kalten Winde wegen, die gerne und frei hier herrschen. Von der Schneide des Waldes sieht man in das Tal der Moldau hinab, welche in vielen Windungen und im moorigen Boden, der sich aus dem Walde herausgelöst hat, in die ferneren Gelände hinaus geht. Gegen sie steigt der Wald in breiten dichten Wogen ab, nimmt sie nicht selten in seine Schatten, und läßt sie wieder in Wiesen und Hutweiden hinaus. Und so geht er von ihr in vielen Wellen in mitternächtlicher gegen Morgen geneigter Richtung in das Land Böhmen hinein, bis er nach vielen Stunden, die ein Mann zu wandern hätte, mit der letzten der Wellen, die den Namen Blansko führt, an der Ebene steht, in welcher die Stadt Budweis liegt. Und wenn er in den Talrinnen und tellerartigen Ausbuchtungen auch viele Wiesen Felder und Ortschaften hat, so geht in der Mitte doch der ungeschwächte Waldwuchs von dem Blöckensteine in gerader morgenlicher Richtung über das Hochficht die Schönebene und den Schloßwald hinaus, und in ihm ist keine Lichtung und keine Wohnung. Die Richtung der Moldau ist auch gegen Morgen. Sie ist ganz in dem böhmischen Lande. Ihr Fließen ist in dem Tale des großen Waldes sehr langsam. Unterhalb des Jesuitenwaldes kömmt sie in die Kienberge, die an ihrer linken Seite stehen. Hinter ihnen begegnet sie dem Fels der Teufelsmauer, und ihr Lauf wird an ihm ein rauschender und tosender. Hierauf geht sie noch um schöne Waldhöhen, und noch ein Weilchen gegen Morgen. Dann ändert sie ihre Richtung, wendet sich gegen Mitternacht, und beginnt das Waldland zu verlassen. Ihr Fall bleibt da fortan ein lebendigerer und schnellerer, als er in der moorigen Talsohle des oberen Waldes gewesen war. Sie begegnet noch manchem dichten Fels, dann manchem Waldhaupte, das sie in Schlangen zu umgehen gezwungen ist, und manchem langgedehnten Hange, an dem sie in gerader Richtung hinstreichen muß, bis die Berge immer kleiner werden, die sie leichter umspringt, bis sie nach mehreren Meilen gleich dem Blansko in die Ebene kömmt, in der Budweis liegt. Die bedeutendsten Orte, denen sie in dem Laufe, der genannt worden ist, in den heutigen Tagen begegnet, sind die Flecken Oberplan und Friedberg, die Abtei Hohenfurt und die Städte Rosenberg und Krumau.
Zur Zeit, da in Deutschland der dritte Konrad, der erste aus dem Geschlechte der Hohenstaufen, herrschte, da Bayern der stolze Heinrich inne hatte, da Leopold der Freigebige Markgraf in Österreich war, da Sobeslaw der Erste auf dem Herzogstuhle der Böhmen saß, und da man das Jahr des Heiles 1138 schrieb: ritt in der Schlucht zwischen dem Berge des Oberhauses und dem des Nonngütleins — welche Berge aber damals wild verwachsen waren — auf einem grauen Pferde, dessen Farbe fast wie der frische Bruch eines Eisenstückes anzuschauen war, ein Mann von der Donau gegen das mitternächtige Hügelland hinaus. Der Mann war noch in jugendlichem Alter. Ein leichter Bart, welcher eher gelb als braun war, zierte die Oberlippe, und umzog das Kinn. Die Wangen waren fast rosenrot, die Augen blau. Das Haupthaar konnte nicht angegeben werden; denn es war ganz und gar von einer ledernen Kappe bedeckt, welche wie ein Becken von sehr festem und dickem Stoffe gebildet, so daß ein ziemlich starker Schwerthieb kaum durchzudringen vermochte, dergestalt auf dem Kopfe saß, daß sie alles Haar in ihrem Innern faßte, und an beiden Ohren so gegen den Rücken mit einer Verlängerung hinabging, daß sie auch einen Hieb auf den Nacken unwirksam zu machen geeignet schien. Diese Verlängerung der Hauptbedeckung aber hing nicht lose auf den Nacken herab, sondern lag ihm vielmehr dicht an, und wurde unter dem Wamse geborgen, welches von gleichem Leder den ganzen Oberkörper knapp umhüllte. In den Achselhöhlen war ein Schnitt, daß der Mann den Arm hoch heben konnte, und daß man dann das Linnen seiner innern Kleidung zu sehen vermochte. Von dem nämlichen Leder schien auch die Beinbekleidung des Reiters. All dieses Leder war ursprünglich mattgelb gewesen, und wiewohl man nicht verkennen konnte, daß große Sorgfalt auf seine Erhaltung und Reinigung angewendet worden sei, so mußte man doch zugeben, daß es nicht mehr neu sei, und Spuren von Wetterschäden und ausgetilgten Flecken zeigte. An der Hüfte hing ein Schwert. Eine Art Mantel oder Oberkleid von Tuch oder überhaupt einem Wollstoffe war zusammengeschnürt an den Sattel geschnallt, weshalb man die Gestalt und das Wesen dieses Dinges nicht zu ergründen vermochte. Nur die Farbe schien grau zu sein. Der Reiter hatte keine Feder auf dem Haupte und nirgends ein Abzeichen an sich. Die Hände waren bloß, die rechte war frei, die linke führte die Zügel. Das Pferd hatte größere Hufe und stärkere Lenden, als Kriegs-oder Reitpferde gewöhnlich zu haben pflegen. Da der Reiter die Schlucht hinaus ritt, sah er weder rechts noch links, noch nach der Stadt zurück. Es war eine frühe Stunde eines Tages des Spätsommers, der schon gegen den Herbst neigte. Der Tag war heiter, und die Sonne schien warm hernieder. Das Pferd ging durch die Schlucht in langsamem Schritte. Als es über sie hinausgekommen war, ging es wohl schneller, aber immer nur im Tritte. Es ging einen langen Berg hinan, dann eben, dann einen Berg hinab, eine Lehne empor, eine Lehne hinunter, ein Wäldchen hinein, ein Wäldchen hinaus, bis es beinahe Mittag geworden war. In dieser Zeit langte der Reiter unter einigen hölzernen Häusern an, die den Namen des Hauzenberges führten. Die Häuser lagen in Unordnung zerstreut, und der Grund, auf dem sie standen, war ungleich. Es war hier schon kühler als an der Donau; denn da in Passau viele Obstbäume standen, ragte hier nur der Waldkirschbaum empor, er stand vereinzelt, und stand in einer Gestalt, die in manchen Teilen zerstückt war, und bewies, daß viele harte Stürme in den Wintern an ihm vorübergegangen waren. In sehr schöner Bildung dagegen stand die Eberesche umher, sie stand bei vielen Häusern, und mischte das Grün ihres Laubes und das beginnende Rot ihrer Trauben zu dem Grau der Dächer. Die Herberge war ein Steinhaus, stand auch neben Ebereschen, und hatte ein flaches, weit vorspringendes Dach, auf dem große Granitstücke lagen. Die Tragebalken gingen weit hervor, und waren zierlich geschnitzt und rot bemalt. In der Gassenmauer war eine Tür, deren Pfosten rot angestrichen waren. Sie führte in die Schenkstube. Nicht weit von ihr war ein Tor, das in den Hof ging. Auf der Gasse standen mehrere steinerne Tische. Weiter zurück waren Pflöcke, die in die Erde eingerammt waren, und dazu dienten, daß man Pferde an sie anhängen konnte. Wieder weiter von diesen Pflöcken entfernt waren auch noch ein paar offene Schoppen, um Pferde unter ihr Dach führen zu können. Hinter den Schoppen stand Waldwuchs.