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»Du hast darüber nachgedacht, du hast alle zukünftigen Möglichkeiten gesehen, die guten wie auch die schlechten – und doch ist die einzige Zukunft, an die du zu glauben bereit bist, die Zukunft deiner Vorstellung, die du als Grundlage für unsere gesamten moralischen Urteile nimmst, die einzige Zukunft, in der jeder, den du und ich je geliebt haben, und alles, was wir uns je erhofft haben, ausgelöscht werden muß.«

»Ich habe nicht gesagt, daß mir diese Zukunft gefällt…«

»Das habe ich auch nicht behauptet«, sagte Valentine. »Ich habe gesagt, daß das die Zukunft ist, auf die du dich vorbereitet hast. Aber ich nicht. Ich lebe lieber in einem Universum, in dem es noch etwas Hoffnung gibt. Ich ziehe es vor, in einem Universum zu leben, in dem deine Mutter und Schwester eine Möglichkeit finden werden, die Descolada zu bändigen, in einem Universum, in dem der Sternenwege-Kongreß reformiert oder durch etwas anderes ersetzt werden kann, in einem Universum, in dem der Kongreß weder die Macht noch den Wunsch hat, eine ganze Spezies zu vernichten.«

»Und was, wenn du dich irrst?«

»Dann habe ich noch immer genug Zeit, um zu verzweifeln, bevor ich sterbe. Aber du – nimmst du jede Gelegenheit zur Verzweiflung wahr? Ich kann den Impuls verstehen, der vielleicht dazu führen könnte. Andrew hat mir gesagt, daß du ein stattlicher Mann warst – nun ja, du bist noch immer einer – und es dich tief verletzt hat, deinen Körper nicht mehr vollständig beherrschen zu können. Doch andere Menschen haben mehr als du verloren, ohne so eine rabenschwarze Sicht von der Welt zu bekommen.«

»Das ist deine Analyse meiner Person?« fragte Miro. »Wir kennen uns seit einer halben Stunde, und jetzt weißt du alles über mich?«

»Ich weiß, daß dies das deprimierendste Gespräch ist, das ich je im Leben geführt habe.«

»Und so gehst du davon aus, es liege daran, daß ich ein Krüppel bin. Nun, ich will dir etwas sagen, Valentine Wiggin. Ich hoffe dasselbe, das du hoffst. Ich hoffe sogar, eines Tages mehr von meinem Körper zurückzubekommen. Hätte ich das nicht gehofft, wäre ich jetzt tot. Was ich dir gerade gesagt habe, rührt nicht von meiner Verzweiflung her. Ich habe das alles gesagt, weil es möglich ist. Und weil es möglich ist, müssen wir darüber nachdenken, damit wir nicht später davon überrascht werden. Wir müssen darüber nachdenken, damit wir, falls es wirklich zum Schlimmsten kommt, bereits wissen, wie wir in diesem Universum leben können.«

Valentine schien sein Gesicht zu betrachten; er schien ihren Blick fast wie ein schwaches Kitzeln unter der Haut fühlen zu können. »Ja«, sagte sie. »Ja was?«

»Ja, mein Mann und ich werden herüberkommen und auf deinem Schiff wohnen.« Sie erhob sich von ihrem Sitz und ging auf den Korridor zu, der zur Röhre führte. »Warum hast du diesen Entschluß gefaßt?«

»Weil es auf unserem Schiff zu beengt ist. Und weil es sich eindeutig lohnt, mit dir zu sprechen. Und nicht nur, um Material für die Essays zu sammeln, die ich schreiben muß.«

»Ach, dann habe ich deine Prüfung bestanden?«

»Ja, hast du«, sagte sie. »Und habe ich deine bestanden?«

»Ich habe dich nicht auf die Probe gestellt.«

»Den Teufel hast du«, sagte sie. »Aber falls du es nicht gemerkt haben solltest, will ich es dir sagen – ich habe bestanden. Oder du hättest nicht das alles zu mir gesagt, was du gesagt hast.«

Sie war weg. Er hörte, wie sie den Gang entlangschlurfte, und dann meldete der Computer, daß sie durch die Röhre zwischen den Schiffen ging.

Er vermißte sie bereits.

Weil sie recht hatte. Sie hatte seinen Test bestanden. Sie hatte ihm zugehört, wie sonst niemand zuhörte – ohne Ungeduld, ohne seine Sätze zu beenden, ohne den Blick von seinem Gesicht streifen zu lassen. Er hatte mit ihr gesprochen, nicht mit vorsichtiger Genauigkeit, sondern mit großer Gefühlsbetontheit. Die meiste Zeit über mußten seine Worte sicher fast unverständlich gewesen sein. Doch sie hatte so aufmerksam und gut zugehört, daß sie all seine Argumente verstanden und ihn nicht ein einziges Mal gebeten hatte, etwas zu wiederholen. Er konnte zu dieser Frau so natürlich sprechen, wie er mit allen gesprochen hatte, bevor sein Gehirn geschädigt worden war. Ja, sie hatte eine vorgefaßte Meinung, sie war halsstarrig, befehlsgewohnt und zog vorschnelle Schlüsse. Aber sie konnte sich auch eine konträre Meinung anhören und ihre ändern, wenn es nötig war. Sie konnte zuhören, und so konnte er sprechen. Vielleicht konnte er bei ihr noch Miro sein.

Kapitel 3

Saubere Hände

›Das Unangenehmste an den Menschen ist, daß sie keine Metamorphose durchlaufen. Dein Volk und meins, wir werden als Raupen geboren, doch wir verwandeln uns in eine höhere Form, bevor wir uns reproduzieren. Die Menschen bleiben ihr Leben lang Raupen.‹

›Menschen vollziehen eine Metamorphose. Sie verändern ständig ihre Identität. Doch jede neue Identität beruht auf der Täuschung, sie habe sich schon immer im Besitz des Körpers befunden, den sie gerade erobert hat.‹

›Solche Veränderungen sind oberflächlich. Die Natur des Organismus bleibt gleich. Menschen sind sehr stolz auf ihre Veränderungen, doch jede eingebildete Verwandlung stellt sich als neue Entschuldigung dafür heraus, sich genauso zu benehmen, wie sich das Individuum schon immer benommen hat.‹

›Du bist zu verschieden von den Menschen, um sie jemals zu verstehen.‹

›Du bist den Menschen zu ähnlich, um sie jemals deutlich zu sehen.‹

Die Götter sprachen zum ersten Mal zu Han Qing-jao, als sie sieben Jahre alt war. Eine Weile begriff sie gar nicht, daß sie die Stimme eines Gottes hörte. Sie wußte nur, daß ihre Hände schmutzig waren, bedeckt von irgendeinem abscheulichen, unsichtbaren Schleim, und sie sich säubern mußte.

Die ersten paar Male genügte es, die Hände einfach zu waschen, und sie fühlte sich danach tagelang besser. Doch als die Zeit verstrich, stellte sich das Gefühl, schmutzig zu sein, jedesmal früher ein, und sie mußte die Hände immer länger abschrubben, um den Schmutz zu entfernen, bis sie sie mehrere Male am Tag wusch und dabei mit einer harten Bürste auf ihre Hände einstach, bis sie bluteten. Erst wenn der Schmerz unerträglich war, fühlte sie sich wieder sauber, und dann jedesmal auch nur für ein paar Stunden.

Sie erzählte niemandem davon; instinktiv wußte sie, daß sie den Schmutz an ihren Händen geheimhalten mußte. Jeder wußte, daß das Händewaschen eins der ersten Zeichen dafür war, daß die Götter zu einem Kind sprachen, und die meisten Eltern auf der ganzen Welt des Weges achteten bei ihren Kindern hoffnungsvoll auf Anzeichen übertriebener Besorgnis um Reinlichkeit. Doch diese Menschen verstanden nicht, welch schreckliche Selbsterkenntnis zu den Waschungen führte: Die erste Botschaft der Götter galt der unaussprechlichen Schmutzigkeit derjenigen, zu denen sie sprachen. Qing-jao verbarg, daß sie sich die Hände wusch, nicht, weil sie sich schämte, daß die Götter zu ihr sprachen, sondern weil sie überzeugt war, daß die anderen sie alle verachten würden, wüßten sie, wie schmutzig sie war.

Die Götter verschworen sich mit ihr in ihrer Verstohlenheit. Sie gestatteten ihr, das wilde Schrubben ihrer Handflächen zu verbergen. Das bedeutete, wenn ihre Hände arg verletzt waren, konnte sie sie zu Fäusten zusammenballen oder in die Falten ihre Kleides stecken, wenn sie ging, oder sie sehr verstohlen in den Schoß legen, wenn sie saß, und niemand bemerkte es. Die anderen sahen nur ein sehr gut erzogenes kleines Mädchen.

Hätte ihre Mutter noch gelebt, wäre Qing-jaos Geheimnis viel früher entdeckt worden. Doch so dauerte es Monate, bis es einer Dienerin auffiel. Die fette alte Mu-pao bemerkte zufällig einen Blutfleck auf dem kleinen Tischtuch von Qing-jaos Frühstückstisch. Mu-pao wußte sofort, was das zu bedeuten hatte – waren blutige Hände nicht ein frühes Zeichen für die Aufmerksamkeit der Götter? Deshalb zwangen viele ehrgeizige Eltern ein besonders vielversprechendes Kind, sich ständig zu waschen. Auf der ganzen Welt des Weges galt demonstratives Händewaschen als ›Einladung an die Götter‹.