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Mu-pao ging sofort zu Qing-jaos Vater, dem edlen Han Fei-tzu, angeblich der größte all jener, zu denen die Götter sprachen, und einer der wenigen, die in den Augen der Götter so mächtig waren, daß sie sich mit Framlingen – Außenweltlern – treffen konnten, ohne auch nur eine Andeutung über die Stimme der Götter in ihnen fallen zu lassen und somit das göttliche Geheimnis der Welt Weg zu bewahren. Er würde dankbar sein, die Nachricht zu vernehmen, und Mu-pao würde beschenkt werden, weil sie die erste gewesen war, die die Götter in Qing-jao gesehen hatte.

Innerhalb von einer Stunde hatte Han Fei-tzu seine geliebte kleine Qing-jao herausgeputzt, und gemeinsam machten sie sich in einer Sänfte auf zum Tempel in Rockfall. Qing-jao mochte es nicht, in einer Sänfte zu sitzen – ihr taten die Männer leid, die ihr Gewicht tragen mußten. »Sie leiden nicht«, sagte Vater zu ihr, als sie diese Vorstellung zum ersten Mal erwähnte. »Sie fühlen sich überaus geehrt. Es ist eine der Möglichkeiten, wie das Volk den Göttern Ehre erweisen kann – wenn ein Gottberührter zu einem Tempel geht, tut er es auf den Schultern des Volkes von Weg.«

»Aber ich werde jeden Tag größer«, erwiderte Qing-jao.

»Wenn du zu groß bist, wirst du entweder zu Fuß gehen oder in deiner eigenen Sänfte«, sagte Vater. Er mußte ihr nicht erklären, daß sie nur einen eigenen Stuhl bekommen würde, falls sie zu einer Gottberührten heranwuchs. »Und wir versuchen, unsere Bescheidenheit zu zeigen, indem wir sehr dünn und leicht bleiben, damit wir den Leuten keine schwere Last sind.« Das war natürlich ein Scherz, da Vaters Bauch zwar nicht gewaltig, aber doch recht ansehnlich war. Doch die Lektion hinter dem Scherz entsprach der Wahrheit: Die Gottberührten durften dem gewöhnlichen Volk von Weg niemals zur Last fallen. Das Volk mußte immer dankbar sein und niemals wütend, daß die Götter von allen Welten ausgerechnet die ihre erwählt hatten, um ihre Stimmen hören zu lassen.

Doch nun war Qing-jao eher über die vor ihr liegende Prüfung besorgt. Sie wußte, daß sie zu einem Test geführt wurde. »Vielen Kindern wird beigebracht, so zu tun, als sprächen die Götter zu ihnen«, erklärte Vater. »Wir müssen herausfinden, ob dich die Götter wirklich auserwählt haben.«

»Ich will nicht, daß mich die Götter auserwählen«, sagte Qing-jao.

»Und während der Prüfung wirst du es noch viel weniger wollen«, sagte Vater. Seine Stimme war von Mitleid erfüllt. Das machte Qing-jao noch mehr Angst. »Das gewöhnliche Volk sieht nur unsere Macht und Privilegien und beneidet uns. Die Menschen wissen nicht, wie sehr die Gottberührten auch leiden. Wenn die Götter zu dir sprechen, meine Qing-jao, wirst du lernen, das Leiden zu ertragen, wie die Jade das Messer des Schnitzers erträgt, den groben Stoff des Polierers. Es wird dich leuchten lassen. Warum sonst habe ich dich wohl Qing-jao genannt?«

Qing-jao – ›Strahlend Hell‹, das bedeutete ihr Name. Es war auch der Name einer großen Dichterin aus antiken Zeiten im Alten China. Einer Dichterin aus einer Epoche, als nur den Männern Respekt entgegengebracht wurde, und doch wurde sie als eine der größten Dichterinnen ihrer Zeit verehrt. ›Dünner Nebel und dicke Wolken, Düsternis den ganzen Tag über.‹ Das war der Anfang von Li Qing-jaos Lied ›Die doppelte Neunte‹. Und so fühlte sich Qing-jao nun.

Und wie endete das Gedicht? ›Nun wird mein Vorhang nur vom Westwind gehoben. Ich bin dünner als diese goldene Blüte geworden.‹ Würde auch sie so enden? Erklärte ihre Vorfahrin-des-Herzens ihr in diesem Gedicht, daß sich die Dunkelheit, die sich nun über sie senkte, nur heben würde, wenn die Götter aus dem Westen kamen, um ihre dünne, leichte, goldene Seele aus ihrem Körper zu nehmen? Es war zu schrecklich, jetzt, da sie erst sieben Jahre alt war, an den Tod zu denken, und doch kam ihr der Gedanke: Wenn ich bald sterbe, werde ich bald Mutter sehen und auch die große Li Qing-jao selbst.

Doch die Prüfung hatte nichts mit dem Tod zu tun, oder sollte es zumindest nicht. Sie war eigentlich ziemlich einfach. Vater führte sie in einen großen Raum, in dem drei alte Männer knieten. Sie kamen ihr zumindest wie Männer vor – es hätten auch Frauen sein können. Sie waren so alt, daß alle Unterscheidungsmerkmale verschwunden waren. Sie hatten nur die winzigsten Strähnen weißen Haars und keine Bärte, und sie waren in formlose Säcke gekleidet. Später würde Qing-jao erfahren, daß es sich bei ihnen um Tempeleunuchen handelte, Überlebende der alten Zeiten, bevor sich der Sternenwege-Kongreß einmischte und sogar freiwillige Selbstverstümmelung im Dienst einer Religion verbot. Nun jedoch waren sie geheimnisvolle, geisterhafte alte Geschöpfe, deren Hände sie berührten und ihre Kleidung erforschten.

Wonach suchten sie? Sie fanden ihre Eßstäbchen aus Elfenbein und nahmen sie ihr weg. Sie nahmen ihr die Schärpe ab, die sie um die Taille geschlungen hatte. Sie nahmen ihr die Schuhe ab. Später würde sie erfahren, daß man ihr diese Dinge abnahm, weil andere Kinder während der Prüfung so verzweifelt geworden waren, daß sie sich das Leben genommen hatten. Eins hatte sich die Eßstäbchen in die Nasenlöcher gesteckt und sich dann zu Boden geworfen, daß sich die Stäbchen ins Gehirn rammten. Ein anderes hatte sich mit der Schärpe erhängt. Ein anderes hatte die Schuhe in den Mund gesteckt, in den Hals hinabgezwungen und sich erstickt. Selbstmordversuche waren selten, doch am häufigsten schienen sie bei den intelligentesten Kindern vorzukommen, und da hauptsächlich bei Mädchen.

Die Alten gingen. Vater kniete neben Qing-jao nieder und sah ihr ins Gesicht. »Du mußt verstehen, Qing-jao, daß wir eigentlich nicht dich auf die Probe stellen. Nichts von dem, was du aus freiem Willen tun kannst, wird bei dem, was hier geschieht, etwas ändern. Wir stellen eigentlich die Götter auf die Probe, um zu sehen, ob sie entschlossen sind, zu dir zu sprechen. Wenn sie es sind, werden sie eine Möglichkeit finden, und wir werden es sehen, und du wirst diesen Raum als eine Gottberührte verlassen. Wenn nicht, dann wirst du hier herauskommen und für alle Zeiten von ihren Stimmen befreit sein. Ich kann dir nicht sagen, für welches Ergebnis ich bete, da ich es selbst nicht weiß.«

»Vater«, sagte Qing-jao, »was geschieht, wenn du dich meiner schämen mußt?« Allein der Gedanke erzeugte ein Prickeln in ihren Händen, als sei wieder Schmutz auf ihnen.

»Ich werde mich deiner nicht schämen.«

Dann klatschte er in die Hände. Einer der Alten kam wieder herein und trug ein schweres Becken. Er setzte es vor Qing-jao ab.

»Stecke die Hände hinein«, sagte Vater.

Das Becken war mit dicker, schwarzer Schmiere gefüllt. Qing-jao erschauderte. »Ich kann die Hände da nicht hineinstecken.«

Vater griff nach ihr, faßte ihre Unterarme und zwang ihre Hände in den Schlamm. Qing-jao schrie auf – ihr Vater hatte noch nie zuvor bei ihr Gewalt angewendet. Und als er ihre Arme losließ, waren ihre Hände mit klebriger Schmiere bedeckt. Sie keuchte auf, als sie sah, wie schmutzig sie waren.

Der Alte hob das Becken auf und trug es hinaus.

»Wo kann ich mich waschen, Vater?« wimmerte Qing-jao.

»Du kannst dich nicht waschen«, sagte Vater. »Du kannst dich nie mehr waschen.«

Und weil Qing-jao ein Kind war, glaubte sie ihm, ohne zu argwöhnen, daß seine Worte Teil der Prüfung waren. Sie beobachtete, wie Vater den Raum verließ. Sie hörte, wie die Tür hinter ihm zuschlug. Sie war allein.

Zuerst streckte sie die Hände einfach weit aus und vergewisserte sich, daß sie keinen Teil ihrer Kleidung berührten. Sie suchte verzweifelt nach einer Möglichkeit, sich zu waschen, aber es gab kein Wasser, nicht einmal ein Tuch. Der Raum war nicht gerade spärlich eingerichtet – es gab Stühle, Tische, Statuen, große Steinkrüge –, aber alle Oberflächen waren hart und poliert und so sauber, daß sie den Gedanken nicht ertragen konnte, sie zu berühren. Doch der Schmutz an ihren Händen war unerträglich. Sie mußte sie säubern.