»Vater!« rief sie laut. »Komm und wasch meine Hände!« Bestimmt konnte er sie hören. Bestimmt war er irgendwo in der Nähe und wartete das Ergebnis der Prüfung ab. Er mußte sie hören – doch er kam nicht.
Der einzige Stoff in dem Raum war das Gewand, das sie trug. Sie konnte sich die Hände daran abwischen, doch dann würde sie die Schmiere mit sich herumtragen; vielleicht geriet sie an andere Teile ihres Körpers. Die Lösung bestand natürlich darin, sich auszuziehen – doch wie konnte sie das, ohne mit ihren schmutzigen Händen einen anderen Teil ihres Körpers zu berühren?
Sie versuchte es. Zuerst kratzte sie an den glatten Armen einer Statue soviel Schleim wie möglich ab. Verzeih mir, sagte sie zu der Statue, für den Fall, daß sie einem Gott gehörte. Ich werde danach zurückkommen und dich säubern; ich werde dich mit meinem eigenen Gewand säubern.
Dann griff sie über die Schultern zurück und umfaßte auf dem Rücken den Stoff, zerrte das Gewand nach oben, um es über den Kopf zu ziehen. Ihre schmutzigen Finger glitten von der Seide ab; sie fühlte die Schmiere kalt auf ihrem nackten Rücken, als er die Seide durchdrang. Ich werde sie danach waschen, dachte sie.
Endlich bekam sie den Stoff so fest in den Griff, daß sie das Gewand herunterbekam. Es glitt über ihren Kopf, doch noch bevor sie es vollständig ausgezogen hatte, wußte sie, daß die Dinge schlimmer denn je waren, denn ein Teil der Schmiere war nun in ihrem langen Haar, und dieses Haar war auf ihr Gesicht gefallen, und nun hatte sie den Schmutz nicht nur an den Händen, sondern auch auf dem Rücken, im Haar und auf dem Gesicht.
Doch sie versuchte es. Sie bekam das Gewand endgültig herunter und wischte die Hände dann sorgfältig an einem kleinen Teil des Stoffes ab. Dann wischte sie mit einem anderen Teil ihr Gesicht ab. Doch es half nichts. Ganz gleich, was sie tat, ein Teil der Schmiere blieb an ihr haften. Ihr Gesicht fühlte sich an, als habe die Seide ihres Gewandes den Dreck nur auf ihr verschmiert, anstatt ihn zu entfernen. Sie war nie im Leben so hoffnungslos schmutzig gewesen. Es war unerträglich, und dennoch konnte sie den Schmutz nicht loswerden.
»Vater! Komm und hol mich! Ich will keine Gottberührte sein!« Er kam nicht. Sie fing an zu weinen.
Doch je mehr sie weinte, desto schmutziger kam sie sich vor. Der verzweifelte Drang, sich zu säubern, war sogar stärker als ihr Weinen. Während die Tränen also ihr Gesicht hinabliefen, suchte sie verzweifelt nach einer Möglichkeit, die Schmiere von ihren Händen zu bekommen. Erneut versuchte sie es mit der Seide ihres Gewandes, doch schon nach kurzer Zeit glitt sie durch den Raum, wischte die Hände an den Wänden ab und verschmierte sie mit Schmutz. Sie rieb die Handflächen so schnell an der Wand, daß Hitze entstand und der Schmutz schmolz. Das machte sie immer wieder, bis ihre Hände rot waren, bis ein Teil der weichgewordenen Kruste auf ihren Handflächen abfiel.
Als ihre Handflächen und Finger so sehr schmerzten, daß sie die Schmiere nicht mehr darauf fühlte, wischte sie ihr Gesicht mit den Händen ab und scharrte mit den Nägeln über die Haut, um den Schmutz dort abzukratzen. Als ihre Hände dann wieder schmutzig waren, rieb sie sie erneut an den Wänden ab.
Schließlich sank sie erschöpft zu Boden und weinte. Ihre Augen schlossen sich vor Tränen. Tränen strömten ihre Wangen hinab. Sie rieb die Augen, die Wangen – und fühlte, wie die Tränen ihre Haut beschmutzten. Sie glaubte mit Sicherheit zu wissen, was das zu bedeuten hatte. Die Götter hatten ihr Urteil über sie gefällt und sie für unrein befunden. Sie war des Lebens nicht wert. Wenn sie sich nicht säubern konnte, mußte sie sich auslöschen. Das würde sie zufriedenstellen. Das würde die Qual von alledem erleichtern. Sie mußte nur eine Möglichkeit finden, wie sie sterben konnte. Zu atmen aufhören. Vater würde es leid tun, daß er nicht gekommen war, als sie ihn gerufen hatte, doch daran konnte sie nichts ändern. Sie stand nun unter der Macht der Götter, und die hatten sie für unwürdig befunden, unter den Lebenden zu weilen. Was für ein Recht hatte sie schließlich, noch zu atmen, nachdem die Tore von Mutters Lippen seit so vielen Jahren keine Luft mehr hindurchließen?
Sie wollte zuerst ihr Gewand benutzen, dachte daran, es sich in den Mund zu stopfen, bis sie nicht mehr atmen konnte, oder es um ihren Hals zu schlingen, um sich zu erwürgen – doch es war viel zu schmutzig, viel zu sehr mit Schmiere bedeckt. Sie mußte einen anderen Weg finden.
Qing-jao ging zur Wand und drückte sich dagegen. Massives Holz. Sie beugte sich zurück und schlug mit dem Kopf dagegen. Schmerz zuckte durch ihren Kopf; benommen sank sie auf den Boden. Ihr Kopf tat weh. Der Raum drehte sich langsam um sie. Einen Augenblick lang vergaß sie, wie schmutzig ihre Hände waren.
Doch die Erleichterung währte nicht lange. Sie konnte auf der Wand eine etwas dunklere Stelle sehen, an der die Schmiere von ihrer Stirn die glänzend polierte Oberfläche aufgebrochen hatte. Die Götter sprachen in ihr und beharrten, sie sei so schmutzig wie eh und je. Ein wenig Schmerz konnte ihre Unwürdigkeit nicht ausgleichen.
Erneut schlug sie mit dem Kopf gegen die Wand. Diesmal war der Schmerz jedoch nicht annähernd so stark. Und noch einmal, noch einmal – und nun begriff sie, daß ihr Körper gegen ihren Willen vor dem Schlag zurückzuckte, sich weigerte, sich selbst soviel Schmerz zuzufügen. Das half ihr zu verstehen, wieso die Götter sie für so unwürdig hielten – sie war zu schwach, um ihren Körper zu zwingen, ihr zu gehorchen. Aber sie war nicht hilflos. Sie konnte ihren Körper austricksen, sich ihr zu unterwerfen.
Sie wählte die größte der Statuen aus, eine von vielleicht drei Metern. Es war ein Bronzeguß eines schreitenden Mannes, der ein Schwert über den Kopf gehoben hatte. Es gab genug Winkel und Hervorstrebungen, die sie hinaufklettern konnte. Ihre Hände glitten immer wieder aus, doch sie hielt durch, bis sie auf den Schultern der Statue balancierte, und hielt sich mit der einen Hand an dem Helm, mit der anderen an dem Schwert fest.
Als sie das Schwert berührte, überlegte sie einen Augenblick lang, sich daran die Kehle aufzuschneiden – dann konnte sie doch nicht mehr atmen, oder? Aber die Klinge war nicht echt. Sie war nicht scharf, und Qing-jao konnte den Hals nicht im richtigen Winkel herunterbekommen. Also griff sie auf ihren ursprünglichen Plan zurück.
Sie atmete mehrmals tief ein, schlug dann die Hände hinter den Nacken und ließ sich nach vorn kippen. Sie würde mit dem Kopf aufschlagen; das würde ihre Beschmutzung beenden.
Als sie dem Boden entgegenstürzte, verlor sie jedoch die Herrschaft über sich. Sie schrie; sie fühlte, wie sich die Hände von ihrem Nacken lösten und nach vorn schlugen, um ihren Sturz zu dämpfen. Zu spät, dachte sie mit grimmiger Befriedigung, und dann prallte ihr Kopf auf den Boden, und alles wurde schwarz.
Qing-jao erwachte mit einem dumpfen Schmerz im Arm und einem scharfen Stechen im Kopf – aber sie lebte. Als sie es ertragen konnte, die Augen zu öffnen, sah sie, daß der Raum dunkler war. War draußen Nacht? Wie lange hatte sie geschlafen? Sie hielt es nicht aus, den linken Arm zu bewegen, den, der ihr weh tat; sie konnte eine häßliche rote Prellung am Ellbogen sehen und glaubte, sich den Arm beim Sturz gebrochen zu haben.
Sie sah auch, daß ihre Hände noch immer dreckverschmiert waren, und fühlte ihre unerträgliche Schmutzigkeit: das Urteil der Götter gegen sie. Sie hätte doch nicht versuchen sollen, sich das Leben zu nehmen. Die Götter würden ihr nicht so leicht erlauben, ihrem Urteil zu entkommen.