»Deshalb fällt es allen so schwer, die Experimente von Ganges ernst zu nehmen.«
»Die Experimente von Ganges waren genau und ehrlich.«
»Doch kein anderer hat jemals dieselben Ergebnisse erzielt.«
»Kein anderer hat sie jemals ernst genug genommen, um dieselben Experimente durchzuführen. Überrascht dich das?«
»Ja«, sagte Valentine. Doch dann erinnerte sie sich, wie die Idee von der wissenschaftlichen Presse lächerlich gemacht worden war, während sie gleichzeitig von den verrückten Randzonen aufgegriffen und in ein Dutzend abwegiger Religionen integriert worden war. Wie konnte ein Wissenschaftler nach einem derartigen Vorgang hoffen, eine Finanzierung für solch ein Projekt zusammenzubekommen? Wie konnte ein Wissenschaftler erwarten, Karriere zu machen, wenn seine Kollegen ihn für den Verkünder einer metaphysischen Religion hielten? »Nein, wohl kaum.«
Das Miro-Abbild nickte. »Wenn sich die philotischen Stränge dem menschlichen Willen folgend verschlingen, könnten wir doch annehmen, daß sämtliche philotischen Verschlingungen willentlich herbeigeführt werden. Jeder Partikel, die gesamte Materie und Energie… warum könnte nicht jedes beobachtbare Phänomen im Universum dem Willen von Einzelmenschen unterliegen?«
»Jetzt gehen wir über den Hinduismus von Ganges hinaus«, sagte Valentine. »Soll ich dir das allen Ernstes abkaufen? Du sprichst hier von Animismus. Die primitivste Art von Religion. Alles lebt. Steine und Meere und…«
»Nein«, sagte Miro. »Leben ist Leben.«
»Leben ist Leben«, sagte das Computerprogramm. »Leben liegt vor, wenn ein einziges Philot die Willenskraft hat, die Moleküle zu einer einzigen Zelle zu verbinden, ihre Stränge zu einem einzigen zu verschlingen. Ein stärkeres Philot kann viele Zellen zu einem Organismus verbinden. Die stärksten sind die Intelligenzwesen. Wir können unsere philotischen Verbindungen unterbringen, wo wir wollen. Die philotische Grundlage intelligenten Lebens tritt noch deutlicher in der anderen bekannten vernunftbegabten Spezies vor. Wenn ein Pequenino stirbt und in das dritte Leben übergleitet, bewahrt sein willensstarkes Philot seine Identität und läßt sie von der Säugetierleiche in den lebenden Baum übergehen.«
»Reinkarnation«, sagte Jakt. »Das Philot ist die Seele.«
»Bei den Schweinchen ist es jedenfalls so«, sagte Miro.
»Und bei der Schwarmkönigin auch«, sagte das Miro-Abbild. »Wir haben die philotischen Verbindungen überhaupt nur entdeckt, weil wir sahen, wie die Krabbler überlichtschnell miteinander kommunizierten – das zeigte uns erst, daß es möglich war. Die einzelnen Krabbler sind alle Teil der Schwarmkönigin; sie sind wie ihre Hände und Füße, und sie ist ihr Verstand, ein riesiger Organismus mit Tausenden oder Millionen Körpern. Und die einzige Verbindung zwischen ihnen ist die Verschlingung ihrer philotischen Stränge.«
Solch ein Bild vom Universum hatte sich Valentine noch nie vorgestellt. Als Historikerin und Biographin sah sie die Dinge natürlich in Begriffen von Menschen und Gesellschaften; sie verfügte zwar über einige Physikkenntnisse, hatte aber keine besondere Ausbildung in diesem Fach erhalten. Vielleicht würde ein Physiker sofort wissen, warum diese ganze Vorstellung absurd war. Andererseits jedoch wäre ein Physiker dermaßen vom Konsens seiner wissenschaftlichen Gemeinde geprägt, daß es ihm um so schwerer fallen würde, eine Vorstellung zu akzeptieren, die die Bedeutung von allem, was er wußte, veränderte. Auch wenn sie der Wahrheit entsprach.
Und ihr gefiel die Vorstellung so gut, daß sie wünschte, sie sei wahr. Könnte es sein, daß von den Billiarden Verliebten, die sich »Wir sind eins!« ins Ohr geflüstert hatten, einige wirklich eins waren? Wäre es nicht schön, sich von den Milliarden Familien, die so eng miteinander verbunden waren, daß sie sich wie eine einzige Seele vorkamen, vorzustellen, daß dem bei einigen auf der ursprünglichsten Ebene der Wirklichkeit tatsächlich so war?
Takt schien von der Vorstellung jedoch nicht so angetan zu sein. »Ich dachte, wir sollten nicht darüber sprechen, daß die Schwarmkönigin existiert«, sagte er. »Ich dachte, das sei Enders Geheimnis.«
»Ist schon in Ordnung«, sagte Valentine. »Jeder in diesem Raum weiß es.«
Jakt bedachte sie mit seinem ungeduldigen Blick. »Ich dachte, wir fliegen nach Lusitania, um beim Kampf gegen den Sternenwege-Kongreß zu helfen. Was hat das alles mit der echten Welt zu tun?«
»Vielleicht nichts«, sagte Valentine. »Vielleicht alles.«
Jakt begrub einen Augenblick lang das Gesicht in den Händen und sah dann mit einem Lächeln auf, das eigentlich gar keins war. »Ich habe dich so etwas Transzendentales nicht mehr sagen hören, seit dein Bruder Trondheim verließ.«
Das traf sie, besonders, weil sie wußte, daß es sie auch treffen sollte. War Jakt nach all diesen Jahren noch immer eifersüchtig auf ihre Verbindung mit Ender? Verabscheute er noch immer die Tatsache, daß sie sich um Dinge sorgen konnte, die ihm nichts bedeuteten? »Als er ging«, sagte Valentine, »blieb ich.« In Wirklichkeit sagte sie: Ich habe den einzigen Test bestanden, auf den es ankam. Warum solltest du jetzt an mir zweifeln?
Jakt war verlegen. Das war eine seiner besten Eigenschaften – wenn er begriff, daß er falsch gehandelt hatte, gestand er es sofort ein. »Und als du gingst«, sagte er, »ging ich mit dir.« Was wohl bedeuten sollte: Ich bin bei dir, ich bin wirklich nicht mehr auf Ender eifersüchtig, und es tut mir leid, daß ich diese Bemerkung gemacht habe. Als sie später allein waren, sagte er all das noch einmal offen. Es war nicht Sinn der Sache, Lusitania zu erreichen, wenn einer von ihnen dabei Argwohn und Eifersucht hegte.
Miro wußte natürlich nicht, daß Jakt und Valentine bereits einen Waffenstillstand beschlossen hatten. Er war sich nur der Spannung zwischen ihnen bewußt und glaubte, er sei der Grund dafür. »Es tut mir leid«, sagte er. »Ich wollte nicht…«
»Schon in Ordnung«, sagte Jakt. »Das gehört nicht zum Thema.«
»Es gibt kein Thema«, sagte Valentine und lächelte ihrem Mann zu. Jakt erwiderte das Lächeln.
Das genügte Miro; er entspannte sich.
»Fahre fort«, sagte Valentine.
»Akzeptiert das alles als Voraussetzung«, sagte das Miro-Abbild.
Valentine konnte sich nicht helfen, sie mußte laut auflachen. Zum Teil lachte sie, weil diese mythische Ganges-Interpretation, die Philoten als Seelen zu sehen, als Prämisse so widersinnig schwer zu schlucken war. Zum Teil lachte sie, um die Spannung zwischen ihr und Jakt zu lösen. »Es tut mir leid«, sagte sie. »Das ist eine schrecklich große ›Voraussetzung‹. Wenn das die Prämisse ist, kann ich es nicht erwarten, die Schlußfolgerung daraus zu hören.«
Miro verstand ihr Gelächter nun und erwiderte das Lächeln. »Ich hatte viel Zeit zum Nachdenken«, sagte er. »Das war wirklich meine Spekulation darüber, was das Leben ist. Alles im Universum ist Verhalten. Doch es gibt noch etwas anderes, was wir euch sagen wollen. Und wohl auch fragen.« Er wandte sich an Jakt. »Und es hat eine Menge damit zu tun, die Lusitania-Flotte aufzuhalten.«
Jakt lächelte und nickte. »Ich weiß es zu schätzen, daß man mir gelegentlich einen Knochen hinwirft.«
Valentine setzte ihr bezauberndstes Lächeln auf. »Aha – und später wirst du froh sein, wenn ich ein paar Knochen breche.«
Jakt lachte erneut.
»Fahre fort, Miro«, sagte Valentine.
Diesmal antwortete das Miro-Abbild. »Wenn die gesamte Realität vom Verhalten der Philoten bestimmt wird, sind die meisten Philoten offensichtlich nur so klug oder stark, um als Meson agieren oder ein Neutron zusammenhalten zu können. Sehr wenige von ihnen haben die Willenskraft zu leben – einen Organismus zu beherrschen. Und ein ganz, ganz winziger Bruchteil von ihnen ist stark genug, um einen bewußten Organismus zu kontrollieren – nein, zu sein. Dennoch ist auch das komplexeste und intelligenteste Wesen – die Schwarmkönigin zum Beispiel – im Kern nur ein Philot wie alle anderen. Sie bekommt ihre Identität und ihr Leben von der besonderen Rolle, die sie zufällig ausübt, doch sie ist ein Philot.«