So oder so, das Geheimnis würde herauskommen. Und als Jane ihren Plan erklärte, begriff Miro, daß sie recht hatte – ihre beste Chance, ihre Existenz geheimzuhalten, bestand einfach darin, die gesamte Verkürzer-Kommunikation zwischen der Flotte und den planetaren Stationen einerseits und zwischen den Schiffen der Flotte andererseits zu unterbinden. Wenn jedes Schiff isoliert blieb und die Mannschaft sich fragte, was geschehen war, ob sie also die Mission abbrechen oder den ursprünglichen Befehlen gehorchen sollten. Entweder würden sie abrücken, oder sie würden ohne die Befugnis bei Lusitania eintreffen, den Kleinen Doktor zu benutzen.
Mittlerweile würde der Kongreß jedoch wissen, daß irgend etwas geschehen war. Es war durchaus möglich, daß bei der normalen Ineffizienz der Bürokratie des Kongresses niemand je herausfinden würde, was passiert war. Doch früher oder später würde jemand begreifen, daß es keine natürliche oder menschenmögliche Erklärung für das Geschehen gab. Jemand würde begreifen, daß Jane – oder etwas wie sie – existieren mußte und zerstört werden konnte, wenn man die gesamte Verkürzer-Kommunikation unterbrach. Und sobald dies bekannt war, würde sie mit Sicherheit sterben.
»Vielleicht auch nicht«, beharrte Miro. »Vielleicht kannst du sie davon abhalten, etwas zu unternehmen. Störe die interplanetare Kommunikation, so daß sie den Befehl, die Kommunikationsvorrichtungen auszuschalten, gar nicht erst geben können.«
Niemand antwortete. Er kannte den Grund: Sie konnte die Verkürzer-Kommunikation nicht auf ewig stören. Schließlich würde die Regierung eines jeden Planeten ihre eigenen Schlüsse ziehen. Sie mochte vielleicht Jahre, Jahrzehnte, Generationen in einem ständigen Kriegszustand überleben. Doch je mehr Macht sie einsetzte, desto mehr würde die Menschheit sie hassen und fürchten. Schließlich würde sie getötet werden.
»Dann ein Buch«, sagte Miro. »Wie Die Schwarmkönigin und Der Hegemon. Wie Menschs Leben. Der Sprecher für die Toten könnte es schreiben. Sie überzeugen, es nicht zu tun.«
»Vielleicht«, sagte Valentine.
»Sie darf nicht sterben«, sagte Miro.
»Ich weiß, daß wir sie nicht bitten können, dieses Risiko einzugehen«, sagte Valentine. »Doch wenn es die einzige Möglichkeit ist, die Schwarmkönigin und die Pequeninos zu retten…«
Miro war wütend. »Ihr könnte ja darüber sprechen, sie sterben zu lassen! Was ist Jane denn schon für euch? Ein Programm, ein Stück Software. Aber das stimmt nicht, sie ist echt, genauso echt wie die Schwarmkönigin, genauso echt wie ein Schweinchen…«
»Ich glaube, für dich noch echter«, sagte Valentine.
»Genauso echt«, sagte Miro. »Du vergißt – ich kenne die Schweinchen wie meine eigenen Brüder…«
»Aber du ziehst die Möglichkeit in Betracht, die Vernichtung der Schweinchen könnte moralisch notwendig sein.«
»Verdreh mir nicht die Worte im Mund.«
»Ich rücke sie gerade«, sagte Valentine. »Du kannst in Betracht ziehen, sie zu verlieren, weil du sie schon verloren hast. Jane jedoch…«
»Kann ich nicht etwa für sie bitten, nur weil sie meine Freundin ist? Können Entscheidungen über Leben und Tod nur von Fremden getroffen werden?«
Jakts Stimme unterbrach den Streit. »Beruhigt euch, ihr beiden. Es ist nicht eure Entscheidung, sondern Janes. Sie hat das Recht, den Wert ihres eigenen Lebens zu bestimmen. Ich bin kein Philosoph, aber das weiß ich.«
»Gut gesprochen«, sagte Valentine.
Miro wußte, daß Jakt recht hatte, daß es Janes Wahl war. Aber er konnte es nicht ertragen, weil er ebenfalls wußte, wie sie sich entscheiden würde. Jane die Wahl zu überlassen hieß, sie zu bitten, es zu tun. Und doch würde ihr die Wahl letztlich ohnehin überlassen bleiben. Er mußte sie nicht einmal fragen, wie sie sich entscheiden würde. Die Zeit verging so schnell für sie, besonders, da sie bereits mit annähernder Lichtgeschwindigkeit reisten, daß sie sich wahrscheinlich schon entschieden hatte.
Es war zuviel für ihn. Es würde unerträglich sein, Jane jetzt zu verlieren; allein der Gedanke daran drohte ihn aus der Fassung zu bringen. Er wollte seine Schwäche nicht vor diesen Menschen zeigen. Es waren gute Menschen, doch er wollte nicht, daß sie sahen, wie er die Selbstbeherrschung verlor. Also beugte sich Miro vor, fand sein Gleichgewicht und hob sich vorsichtig aus dem Sitz. Es war schwer, da nur ein paar seiner Muskeln seinem Willen gehorchten, und es erforderte seine ganze Konzentration, nur um von der Brücke zu seiner Kabine zu gehen. Niemand folgte ihm oder sprach ihn auch nur an. Er war froh darüber.
Als er allein auf seinem Zimmer war, legte er sich auf die Koje und rief sie. Aber nicht laut. Er subvokalisierte, weil er normalerweise immer so mit ihr sprach. Obwohl die anderen auf diesem Schiff nun von ihr wußten, hatte er nicht die Absicht, die Gewohnheiten aufzugeben, die ihre Existenz bislang geheimgehalten hatten.
»Jane«, sagte er stumm.
»Ja«, sagte die Stimme in seinem Ohr. Wie immer stellte er sich vor, ihre weiche Stimme käme von einer Frau gerade außerhalb seiner Sichtweite. Er schloß die Augen, damit er sie sich besser vorstellen konnte. Ihr Atem auf seiner Wange. Ihr Haar, das sein Gesicht streifte, während sie leise zu ihm sprach und er stumm antwortete.
»Sprich mit Ender, bevor du eine Entscheidung triffst.«
»Ich habe bereits mit ihm gesprochen.«
»Was hat er gesagt?«
»Nichts zu tun, keinen Entschluß zu fassen, bis der Befehl tatsächlich ausgeschickt wird.«
»Genau. Vielleicht werden sie es gar nicht tun.«
»Vielleicht. Vielleicht kommt eine neue Gruppe mit einer anderen Politik an die Macht. Vielleicht wird diese Gruppe es sich anders überlegen. Vielleicht wird Valentines Propaganda Erfolg haben. Vielleicht gibt es in der Flotte eine Meuterei.«
Die letzte Möglichkeit, sah Miro plötzlich ein, war so unwahrscheinlich, daß Jane mit absoluter Sicherheit davon ausging, daß der Befehl gegeben werden würde.
»Wie bald?« fragte Miro.
»Die Flotte müßte in etwa fünfzehn Jahren eintreffen. Ein Jahr oder weniger, nachdem diese beiden Schiffe dort angelangt sind. Der Befehl wird irgendwann vorher geschickt. Vielleicht sechs Monate vor der Ankunft – was etwa acht Stunden Schiffszeit sein würde, bevor die Flotte den lichtschnellen Flug aufgibt und zu normaler Geschwindigkeit abbremst.«
»Tue es nicht«, sagte Miro.
»Ich habe mich noch nicht entschieden.«
»Doch, das hast du. Du hast dich entschieden, es zu tun.«
Sie sagte nichts.
»Laß mich nicht allein.«
»Ich lasse meine Freunde nicht allein, wenn es nicht sein muß«, sagte sie. »Einige Menschen tun das, ich aber nicht.«
»Tue es einfach nicht«, sagte er erneut. Er weinte. Konnte sie das irgendwie durch das Juwel in seinem Ohr spüren?
»Ich werde es versuchen.«
»Finde einen anderen Weg. Finde eine andere Möglichkeit, sie aufzuhalten. Finde eine Möglichkeit, dich aus dem philotischen Netz zu bringen, so daß sie dich nicht töten können.«
»Das hat Ender auch gesagt.«
»Dann tue es!«
»Ich kann nach solch einer Möglichkeit suchen, doch wer weiß, ob ich sie auch finde?«