»Wie einflußreich waren diese Essays?« fragte Vater.
»Das weiß ich nicht.«
»Sie hatten sehr großen Einfluß«, sagte Vater. »Vor fünfzehn Jahren waren die ersten Essays auf den Kolonien so wirksam, daß sie fast eine Revolution verursacht haben.«
Beinahe eine Revolution auf den Kolonien? Vor fünfzehn Jahren? Qing-jao wußte nur von einem solchen Vorfall, hatte jedoch niemals begriffen, daß er etwas mit Demosthenes' Essays zu tun hatte. Sie errötete. »Das war zur Zeit der Kolonie-Charta – dein erster großer Vertrag.«
»Es war nicht mein Vertrag«, sagte Han Fei-tzu. »Es war ein Vertrag gleichermaßen zwischen dem Kongreß und den Kolonien. Wegen ihm wurde ein schrecklicher Konflikt vermieden. Und die Lusitania-Flotte setzt ihre große Mission fort.«
»Du hast jedes Wort des Vertrags geschrieben, Vater.«
»Dabei drückte ich lediglich die Wünsche und Begehren aus, die sich bereits in den Herzen der Menschen auf beiden Seiten des Abkommens befanden. Ich war nur der Schriftführer.«
Qing-jao neigte den Kopf. Sie kannte die Wahrheit, wie alle anderen auch. Es war der Anfang von Han Fei-tzus Ruhm gewesen, denn er hatte nicht nur den Vertrag geschrieben, sondern auch beide Seiten überzeugt, ihn fast ohne Änderungen zu akzeptieren. Danach war Han Fei-tzu einer der vertrauenswürdigsten Ratgeber des Kongresses geworden; täglich trafen Botschaften von den größten Männern und Frauen aller Welten ein. Falls er sich bei diesem großen Unternehmen lediglich als Schriftführer bezeichnete, dann nur, weil er ein Mann von großer Bescheidenheit war. Qing-jao wußte ebenfalls, daß Mutter schon im Sterben gelegen hatte, als Vater diese Aufgabe bewältigte. Solch ein Mann war ihr Vater – er vernachlässigte weder seine Frau noch seine Pflicht. Mutters Leben hatte er nicht retten können, dafür aber die der Menschen, die sonst im Krieg gestorben wären.
»Qing-jao, warum sagst du, es sei eine offensichtliche Lüge, daß die Flotte mit dem M.D.-Gerät ausgerüstet ist?«
»Weil… weil das ungeheuerlich wäre. Es wäre wie Ender der Xenozide, der eine ganze Welt vernichtet. Soviel Macht hat kein Recht, in diesem Universum zu existieren, und auch keinen Grund.«
»Wer hat dich das gelehrt?«
»Der Anstand«, sagte Qing-jao. »Die Götter haben die Sterne und alle Planeten geschaffen – wer ist der Mensch, daß er ihre Schöpfung zerstört?«
»Aber die Götter haben auch die Naturgesetze geschaffen, die es ermöglichen, sie zu vernichten – wer ist der Mensch, daß er sich weigert, die Geschenke der Götter anzunehmen?«
Qing-jao schwieg verblüfft. Sie hatte nie gehört, daß Vater irgendeinen Aspekt des Krieges verteidigte – er verabscheute den Krieg in jeder Form.
»Ich frage dich erneut – wer hat dich gelehrt, daß soviel Macht kein Recht oder keinen Grund hat, im Universum zu existieren?«
»Das ist meine eigene Idee.«
»Aber dieser Satz war ein wortwörtliches Zitat.«
»Ja. Von Demosthenes. Doch wenn ich an eine Idee glaube, wird sie zu meiner eigenen. Du hast mich das gelehrt.«
»Du mußt darauf achten, alle Konsequenzen einer Vorstellung zu verstehen, bevor du an sie glaubst.«
»Der Kleine Doktor darf niemals gegen Lusitania eingesetzt werden; also hätte man ihn gar nicht erst ausschicken sollen.«
Han Fei-tzu nickte ernst. »Woher weißt du, daß er niemals eingesetzt werden darf?«
»Weil er die Schweinchen vernichten würde, ein junges und wunderschönes Volk, das bestrebt ist, sein Potential als vernunftbegabte Spezies zu erfüllen.«
»Noch ein Zitat.«
»Vater, hast du Menschs Leben gelesen?«
»Ja.«
»Wie kannst du dann bezweifeln, daß die Pequeninos erhalten werden müssen?«
»Ich habe gesagt, ich habe Menschs Leben gelesen. Nicht, daß ich daran glaube.«
»Du glaubst nicht daran?«
»Weder glaube ich es, noch glaube ich es nicht. Das Buch erschien erstmals, nachdem der Verkürzer auf Lusitania zerstört worden war. Daher ist es möglich, das das Buch nicht von dort stammt, und wenn es nicht von dort stammt, könnte es reine Literatur sein. Das scheint besonders wahrscheinlich, weil es mit ›Sprecher für die Toten‹ gezeichnet ist, derselbe Name, unter dem Die Schwarmkönigin und Der Hegemon erschienen, und diese Bücher sind tausende Jahre alt. Jemand hat offensichtlich versucht, Kapital aus der Ehrfurcht zu schlagen, die die Menschen diesen uralten Werken entgegenbringen.«
»Ich glaube, daß Menschs Leben wahr ist.«
»Das steht dir frei, Qing-jao. Aber warum glaubst du das?«
Weil es wahr klang, als sie es gelesen hatte. Konnte sie das Vater sagen? Ja, sie konnte alles sagen. »Weil ich das Gefühl hatte, es müsse wahr sein, als ich es las.«
»Ich verstehe.«
»Nun weißt du, daß ich töricht bin.«
»Im Gegenteil. Ich weiß, daß du weise bist. Wenn du eine wahre Geschichte hörst, reagiert ein Teil von dir darauf,' egal, welche Form sie hat, wie offenkundig sie zu sein scheint. Wenn du die Wahrheit liebst, kann sie ruhig unbeholfen erzählt sein, und sie wird dir trotzdem gefallen. Mag sie auch an den Haaren herbeigezogen sein, du wirst die Wahrheit, die darin ist, trotzdem glauben, denn du kannst die Wahrheit nicht bestreiten, ganz gleich, wie schäbig sie gekleidet ist.«
»Und wieso glaubst du dann nicht an Menschs Leben?«
»Ich habe mich undeutlich ausgedrückt. Wir benutzen zwei verschiedene Bedeutungen der Worte Wahrheit und Glauben. Du glaubst, daß die Geschichte wahr ist, weil du mit diesem Gefühl der Wahrheit tief in dir darauf reagierst. Doch dieses Gefühl der Wahrheit betrifft nicht den Tatsachengehalt einer Geschichte – ob sie wortwörtlich ein echtes Ereignis in der echten Welt beschreibt. Dein inneres Wahrheitsgefühl reagiert auf die Ursächlichkeit einer Geschichte – ob sie wahrheitsgetreu zeigt, wie das Universum funktioniert, wie die Götter ihren Willen unter den Menschen durchsetzen.«
Qing-jao dachte nur kurz nach und nickte dann. »Also ist Menschs Leben vielleicht universell wahr, aber in Einzelheiten falsch.«
»Ja«, sagte Han Fei-tzu. »Du kannst das Buch lesen und große Weisheit daraus ziehen, weil es wahr ist. Aber bietet dieses Buch eine genaue Beschreibung der Schweinchen selbst? Das kann man nur schwer glauben – eine Säugetierspezies, die sich in einen Baum verwandelt, wenn sie stirbt? Als Dichtung wunderschön. Als Wissenschaft lächerlich.«
»Aber woher willst du das wissen, Vater?«
»Nein, ich kann mir nicht sicher sein. Die Natur hat viele seltsame Dinge vollbracht, und es besteht die Möglichkeit, daß Menschs Leben echt und wahr ist. Daher glaube ich weder daran, noch bezweifle ich es. Ich lasse es in der Schwebe verharren. Ich warte. Doch während ich warte, rechne ich nicht damit, daß der Kongreß Lusitania behandelt, als sei der Planet mit den Geschöpfen aus Menschs Leben bevölkert. Nach allem, was wir wissen, könnten die Pequeninos eine tödliche Gefahr für uns darstellen. Es sind schließlich Außerirdische.«
»Ramänner.«
»In der Geschichte. Doch wir wissen nicht, ob sie Ramänner oder Varelse sind. Die Flotte hat den Kleinen Doktor dabei, weil er nötig sein könnte, um der Menschheit eine unaussprechliche Gefahr zu ersparen. Die Entscheidung, ob er eingesetzt werden soll, fällt nicht uns zu, sondern dem Kongreß. Und nicht wir mußten entscheiden, ob er mitgeschickt werden sollte, sondern der Kongreß. Und mit Sicherheit obliegt nicht uns die Entscheidung, ob es ihn geben sollte – die Götter selbst haben entschieden, daß solch ein Ding möglich ist und existieren kann.«