»Also hatte Demosthenes recht. Die Flotte hat das M.D.Gerät dabei.«
»Ja.«
»Und die Regierungsakten, die Demosthenes veröffentlicht hat – sie waren echt.«
»Ja.«
»Aber, Vater – du hast wie viele andere auch behauptet, es seien Fälschungen.«
»Genau, wie die Götter nur zu einigen Auserwählten sprechen, müssen die Geheimnisse der Herrscher nur denjenigen bekannt sein, die ihr Wissen richtig benutzen. Demosthenes hat mächtige Geheimnisse an Menschen verraten, die nicht imstande waren, sie klug zu benutzen, und so mußten diese Geheimnisse zum Besten des Volkes zurückgezogen werden. Die einzige Möglichkeit, ein einmal bekanntes Geheimnis zu bewahren, besteht darin, es durch eine Lüge zu ersetzen; dann ist das Wissen um die Wahrheit erneut dein Geheimnis.«
»Du behauptest, daß Demosthenes nicht gelogen hat, der Kongreß aber doch.«
»Ich behaupte, daß Demosthenes der Feind der Götter ist. Ein weiser Herrscher hätte niemals die Lusitania-Flotte ausgeschickt, ohne ihr die Möglichkeit zu geben, auf jede Entwicklung zu reagieren. Doch Demosthenes hat sein wissen, daß die Flotte mit dem Kleinen Doktor ausgestattet ist, zu dem Versuch benutzt, den Kongreß zum Rückzug der Flotte zu zwingen. Also will er denen, die von den Göttern beauftragt wurden, die Menschheit zu beherrschen, die Macht aus den Händen nehmen. Was würde mit dem Volk passieren, wenn es die Herrscher zurückwiese, die die Götter ihm gegeben haben?«
»Chaos und Leid«, sagte Qing-jao. Die Geschichten war voller Zeiten des Chaos und Leids, bis die Götter starke Herrscher und Institutionen schickten, um die Ordnung zu bewahren.
»Also hat Demosthenes über den Chirurg die Wahrheit gesagt. Glaubst du, die Feinde der Götter könnten niemals die Wahrheit sprechen? Ich wünschte, es wäre so. Dann könnte man sie viel leichter identifizieren.«
»Wenn wir im Dienst der Götter lügen können… welche anderen Verbrechen können wir dann noch begehen?«
»Was ist ein Verbrechen?«
»Eine Tat, die gegen das Gesetz verstößt.«
»Gegen welches Gesetz?«
»Ich verstehe – der Kongreß macht das Gesetz, also ist das Gesetz das, was der Kongreß sagt. Aber der Kongreß besteht aus Männern und Frauen, die Gutes und Böses tun können.«
»Du näherst dich der Wahrheit. Wir können im Dienst des Kongresses keine Verbrechen begehen, weil der Kongreß die Gesetze macht. Doch wenn der Kongreß jemals böse werden würde, könnten auch wir Böses tun, indem wir ihm gehorchen. Das ist eine Frage des Gewissens. Doch wenn dies geschähe, würde der Kongreß mit Sicherheit das Mandat des Himmels verlieren. Und wir Gottberührte müßten nicht wie andere warten und uns Gedanken um das Mandat des Himmels machen. Wenn der Kongreß das Mandat der Götter verlöre, würden wir es sofort wissen.«
»Also hast du für den Kongreß gelogen, weil der Kongreß das Mandat des Himmels hat.«
»Und daher weiß ich, daß es der Wille der Götter zum Guten des Volkes war, ihnen zu helfen, ihr Geheimnis zu bewahren.«
Qing-jao hatte noch nie in diesen Begriffen vom Kongreß gedacht. Alle Geschichtsbücher, die sie gelesen hatte, stellten den Kongreß als den großen Einiger der Menschheit dar, und den Schulbüchern zufolge waren all seine Handlungen edel. Doch nun begriff sie, daß einige seiner Taten vielleicht nicht gut zu sein schienen. Doch das bedeutete nicht unbedingt, daß sie nicht gut waren. »Dann muß ich von den Göttern erfahren, ob der Wille des Kongresses auch ihr Wille ist«, sagte sie.
»Wirst du das tun?« fragte Han Fei-tzu. »Wirst du dem Willen des Kongresses gehorchen, selbst wenn er falsch zu sein scheint, solange der Kongreß das Mandat des Himmels hat?«
»Bittest du mich um meinen Eid?«
»Ja.«
»Dann werde ich gehorchen, solange er das Mandat des Himmels hat.«
»Ich mußte dir diesen Eid abverlangen, um die Sicherheitsbestimmungen des Kongresses zu erfüllen«, sagte er. »Ohne ihn hätte ich dir deine Aufgabe nicht stellen können.« Er räusperte sich. »Doch nun muß ich noch einen Eid von dir verlangen.«
»Ich gebe ihn, wenn ich kann.«
»Dieser Eid ist von – ist aus einer großen Liebe entstanden. Han Qing-jao, wirst du den Göttern bei allen Dingen, auf allen Wegen, dein ganzes Leben lang dienen?«
»Vater, dafür brauchen wir keinen Eid. Haben die Götter mich nicht bereits auserwählt und mit ihrer Stimme geführt?«
»Nichtsdestotrotz verlange ich diesen Eid von dir.«
»Ich werde den Göttern immer dienen, bei allen Dingen, auf allen Wegen.«
Zu ihrer Überraschung kniete Vater vor ihr nieder und nahm ihre Hände in die seinen. Tränen strömten seine Wangen hinab. »Du hast die schwerste Last von meinem Herzen genommen, die sich jemals darauf befunden hat.«
»Wie habe ich dies getan, Vater?«
»Bevor deine Mutter starb, bat sie mich um mein Versprechen. Sie sagte, da ihr ganzes Wesen von ihrer Hingabe an die Götter bestimmt werde, könne ich dir nur helfen, sie kennenzulernen, indem ich dich lehrte, ebenfalls den Göttern zu dienen. Mein Leben lang habe ich befürchtet, daß es mir nicht gelingen könnte, daß du dich von den Göttern abwenden würdest. Daß du sie vielleicht sogar einmal hassen würdest. Oder daß du dich ihrer Stimme nicht als würdig erweisen würdest.«
Diese Worte trafen Qing-jao tief. Sie war sich immer ihrer tiefen Unwürdigkeit vor den Göttern bewußt, ihrer Schmutzigkeit vor ihrem Anblick – selbst wenn sie nicht von ihr verlangten, Linien von Holzmaserungen zu beobachten oder zu verfolgen. Erst jetzt erfuhr sie, was auf dem Spiel stand: die Liebe ihrer Mutter für sie.
»All meine Ängste sind nun von mir gewichen. Du bist eine perfekte Tochter, meine Qing-jao. Du hast den Göttern bereits gut gedient. Und nun, nachdem du den Eid geleistet hast, kann ich sicher sein, daß du ihnen auf ewig dienen wirst. Das wird große Freude in dem Haus im Himmel hervorrufen, in dem deine Mutter wohnt.«
Ach ja? Im Himmel kennen sie meine Schwächen. Du, Vater, du siehst nur, daß die Götter noch nicht enttäuscht habe. Mutter hingegen muß wissen, wie oft ich beinahe versagt hätte, wie schmutzig ich bin, wann immer die Götter zu mir hinabschauen.
Doch er schien so voller Freude zu sein, daß sie es nicht wagte, ihm zu zeigen, wie sehr sie den Tag fürchtete, da ihre Unwürdigkeit von allen bemerkt werden würde. Also umarmte sie ihn.
Doch sie konnte nicht anders, sie mußte ihn einfach fragen: »Vater, glaubst du wirklich, Mutter hat gehört, daß ich diesen Eid geleistet habe?«
»Ich hoffe es«, sagte Han Fei-tzu. »Wenn nicht, werden die Götter sicher das Echo aufbewahren, in eine Muschel geben und es sie hören lassen, wann immer sie sie an ihr Ohr hält.«
Diese Art Geschichten zu erzählen war ein Spiel, das sie gespielt hatten, als sie noch klein gewesen war. Qing-jao vergaß ihr Entsetzen und ließ sich schnell eine Antwort einfallen. »Nein, die Götter werden das Gefühl unserer Umarmung bewahren und es in einen Schal weben, den sie um die Schultern legen kann, wenn im Himmel der Winter einzieht.« Sie war jedenfalls erleichtert, daß Vater nicht ja gesagt hatte. Er hoffte nur, daß Mutter den Eid, den sie geleistet hatte, gehört hatte. Vielleicht hatte sie ihn aber auch nicht gehört – und dann würde sie nicht so enttäuscht sein, wenn ihre Tochter scheiterte.
Vater küßte sie und erhob sich dann. »Jetzt kannst du deine Aufgabe hören«, sagte er.
Er nahm sie an der Hand und führte sie zu seinem Tisch. Sie stand neben ihm, als er sich auf seinen Stuhl setzte; stehend war sie nicht viel größer als er sitzend. Wahrscheinlich hatte sie noch nicht ihre volle Größe erreicht, doch sie hoffte, daß sie nicht mehr viel wachsen würde. Sie wollte nicht eine dieser großen, massigen Frauen werden, die auf den Feldern schwere Lasten schleppten. Lieber eine Maus als ein Schwein sein, das hatte Mu-pao ihr vor Jahren gesagt.