Vater rief eine Sternenkarte auf den Bildschirm auf. Sie erkannte die Region sofort. Den Mittelpunkt bildete das Sonnensystem von Lusitania, wenngleich der Maßstab zu klein war, als daß man einzelne Planeten hätte ausmachen können. »Lusitania in der Mitte«, sagte sie.
Vater nickte. Er gab ein paar weitere Befehle ein. »Achte genau darauf«, sagte er. »Nicht auf den Bildschirm, sondern auf meine Finger. Das ist gemeinsam mit deiner Stimmidentifikation das Paßwort, das dir Zugang zu den Informationen verschaffen wird, die du brauchen wirst.«
Sie beobachtete, wie er das Paßwort eingab – 4Bande – und begriff die Anspielung sofort. Die Vorfahrin-des-Herzens ihrer Mutter war Jiang-Qing gewesen, die Witwe des ersten kommunistischen Kaisers Mao Ze-dong. Als Jiang-Qing und ihre Verbündeten aus der Macht gejagt wurden, bezeichnete die Verschwörung der Feiglinge sie mit dem Namen ›Viererbande‹. Qing-jaos Mutter war eine wahre Tochter-des-Herzens dieser großen Märtyrerin der Vergangenheit gewesen. Und nun würde Qing-jao der Vorfahrin-des-Herzens ihrer Mutter jedesmal, wenn sie den Zugangskode tippte, weitere Ehre erweisen können. Es war großzügig von ihrem Vater, dieses Paßwort gewählt zu haben.
Auf dem Display erschienen zahlreiche grüne Punkte. Sie zählte sie schnell, fast ohne nachzudenken: Es waren neunzehn, einige davon in einiger Entfernung von Lusitania zusammengezogen, den Planeten jedoch in alle Richtungen einkreisend.
»Ist das die Lusitania-Flotte?«
»Das war ihre Position vor fünf Monaten.« Er gab einen weiteren Befehl ein. Die grünen Punkte verschwanden allesamt. »Und das ist ihre heutige Position.«
Sie suchte nach den Schiffen, konnte aber nirgendwo einen grünen Punkt finden. Und doch erwartete Vater eindeutig, daß sie irgend etwas sah. »Sind sie bereits bei Lusitania?«
»Die Schiffe sind da, wo du sie siehst«, sagte Vater. »Vor fünf Monaten ist die Flotte verschwunden.«
»Wo ist sie?«
»Das weiß niemand.«
»War es eine Meuterei?«
»Das weiß niemand.«
»Die ganze Flotte?«
»Jedes einzelne Schiff.«
»Was meinst du, wenn du sagst, sie sei verschwunden?«
Vater bedachte sie mit einem Lächeln. »Gut gemacht, Qing-jao. Du hast die richtige Frage gestellt. Niemand hat sie gesehen – alle Schiffe waren tief im All. Also sind sie nicht physisch verschwunden. Soweit wir wissen, bewegen sie sich vielleicht noch auf ihrem ursprünglichen Kurs. Sie sind nur in dem Sinn verschwunden, daß wir jeden Kontakt mit ihnen verloren haben.«
»Die Verkürzer?«
»Sind verstummt. Alle innerhalb von drei Minuten. Es wurde keine Sendung unterbrochen. Die eine endete, und die nächste – kam nie.«
»Alle Schiffsverbindungen mit jedem planetaren Verkürzer? Das ist unmöglich. Selbst eine Explosion, falls es eine so große geben könnte… doch es kann sich jedenfalls nicht um ein einziges Ereignis handeln, weil sie sich so weit um Lusitania verstreut hatten.«
»Nun, es könnte doch so gewesen sein, Qing-jao. Solch eine Katastrophe wäre vorstellbar – Lusitanias Stern könnte zu einer Supernova geworden sein. Es würde Jahrzehnte dauern, bis wir selbst auf den nahegelegensten Welten den Blitz sehen. Das Problem ist, daß es sich um die unwahrscheinlichste Supernova in der Geschichte handelte – nicht unmöglich, aber unwahrscheinlich.«
»Und es hätte einige Vorwarnungen gegeben. Einige Veränderungen des Sterns. Haben die Schiffsinstrumente nichts entdeckt?«
»Nein. Deshalb sind wir ja der Meinung, daß es sich nicht um irgendein bekanntes astronomisches Phänomen handelt. Die Wissenschaftler können es sich einfach nicht erklären. Also haben wir herauszufinden versucht, ob es sich um Sabotage handelt. Wir haben nach Manipulationen der Verkürzer-Computer geforscht. Wir sind alle Personalakten jedes einzelnen Schiffes durchgegangen und haben nach einer möglichen Verschwörung unter den Schiffsbesatzungen gesucht. Wir haben eine Kryptoanalyse jeder Nachricht von jedem einzelnen Schiff vorgenommen und nach versteckten Mitteilungen unter den Verschwörern gesucht. Das Militär und die Regierung haben alles analysiert, was sich nur analysieren läßt. Die Polizei auf jedem Planeten hat Untersuchungen vorgenommen – wir haben den Hintergrund eines jeden Verkürzer-Bedieners durchleuchtet.«
»Obwohl keine Nachrichten mehr geschickt werden, sind die Verkürzer noch miteinander verbunden?«
»Was glaubst du?«
Qing-jao errötete. »Natürlich sind sie das noch, selbst wenn ein M.D.-Gerät gegen die Flotte eingesetzt worden sein sollte, weil die Verkürzer durch Fragmente subatomarer Partikel miteinander verbunden sind. Sie wären noch immer da, auch wenn das ganze Sternenschiff zu Staub zerblasen sein würde.«
»Es muß dir nicht peinlich sein, Qing-jao. Die Weisen sind nicht weise, weil sie keine Fehler machen. Sie sind weise, weil sie ihre Fehler korrigieren, sobald sie sie erkannt haben.«
Doch Qing-jao errötete nun aus einem anderen Grund. Das heiße Blut pochte in ihrem Kopf, weil ihr gerade aufgegangen war, wie Vaters Aufgabe für sie aussehen würde. Aber das war unmöglich. Er konnte ihr keinen Auftrag geben, bei dem tausend weisere, ältere Menschen schon gescheitert waren.
»Vater«, flüsterte sie, »was ist meine Aufgabe?« Sie hoffte noch immer, daß es sich um irgendein kleineres Problem handelte, das mit dem Verschwinden der Flotte zusammenhing. Doch noch bevor er sprach, wußte sie, daß ihre Hoffnung vergeblich war.
»Du mußt jede mögliche Erklärung für das Verschwinden der Flotte herausfinden«, sagte er, »und berechnen, wie wahrscheinlich davon eine jede ist. Der Sternenwege-Kongreß muß sagen können, wie das geschehen ist, und sicherstellen, daß es nie wieder geschehen wird.«
»Aber Vater«, sagte Qing-jao, »ich bin erst sechzehn. Gibt es nicht viele andere, die klüger als ich sind?«
»Vielleicht sind sie alle zu klug für diese Aufgabe«, sagte er. »Aber du bist jung genug, um dich nicht für weise zu halten. Du bist jung genug, um unmögliche Dinge zu denken und herauszufinden, warum sie vielleicht doch möglich sind. Vor allem sprechen die Götter mit außergewöhnlicher Klarheit zu dir, mein brillantes Kind, meine ›Strahlend Helle‹.«
Das war es, wovor sie Angst hatte – daß Vater von ihr erwartete, Erfolg zu haben, weil ihr die Gunst der Götter galt. Er begriff nicht, für wie unwürdig die Götter sie hielten, wie wenig sie sie mochten.
Und da war noch ein Problem. »Was geschieht, wenn ich Erfolg habe, wenn ich herausfinde, wo die Lusitania-Flotte ist, und die Kommunikation wiederherstelle? Wäre es dann nicht meine Schuld, wenn die Flotte Lusitania vernichtete?«
»Es ist gut, daß dein erster Gedanke dem Volk von Lusitania gilt. Ich versichere dir, der Sternenwege-Kongreß hat versprochen, das M.D.-Gerät nur einzusetzen, wenn es sich als absolut unvermeidlich erweist, und das ist so unwahrscheinlich, daß es ich mir einfach nicht vorstellen kann. Doch selbst, wenn es so kommen sollte, obliegt dem Kongreß die Entscheidung. Wie mein Vorfahre-des-Herzens sagte: ›Obwohl die Bestrafung des Weisen leicht sein kann, liegt dies nicht an seiner Hingabe; obwohl seine Strafbestimmungen schwer sein können, liegt dies nicht an seiner Grausamkeit; er folgt einfach dem Brauch gemäß der Zeit. Die Umstände ändern sich gemäß der Epoche, und die Möglichkeiten, sich mit ihnen zu befassen, ändern sich mit den Umständen.‹ Du kannst dir sicher sein, daß sich der Sternenwege-Kongreß mit Lusitania befassen wird, nicht freundlich oder grausam, sondern so, wie es zum Wohl der gesamten Menschheit notwendig ist. Deshalb dienen wir den Herrschern: weil sie dem Volk dienen, die den Ahnen dienen, die den Göttern dienen.«