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»Vater, es war unwürdig, auch nur einen anderen Gedanken zu hegen«, sagte Qing-jao. Sie fühlte jetzt, wie schmutzig sie war, anstatt nur davon zu wissen. Sie mußte sich die Hände waschen. Sie mußte die Linie einer Holzmaserung verfolgen. Doch sie unterdrückte den Drang. Sie würde warten.

Was auch immer ich tue, dachte sie, es wird schreckliche Konsequenzen haben. Wenn ich versage, wird Vater die Ehre vor dem Kongreß und demzufolge vor der gesamten Welt Weg verlieren. Das würde vielen beweisen, daß Vater nicht würdig ist, nach seinem Tod zum Gott von Weg erwählt zu werden.

Doch wenn ich Erfolg habe, könnte das Ergebnis der Xenozid sein. Obwohl die Wahl dem Kongreß unterliegt, würde ich dennoch wissen, daß ich es erst ermöglicht habe. Die Verantwortung fiele zum Teil mir zu. Ganz gleich, was ich tue, das Scheitern erwartet mich, und die Unwürdigkeit wird mich besudeln.

Dann sprach Vater zu ihr, als hätten die Götter ihm ihr Herz offenbart. »Ja, du warst unwürdig«, sagte er, »und du setzt diese Unwürdigkeit selbst jetzt noch in deinen Gedanken fort.«

Qing-jao errötete und senkte den Kopf. Sie schämte sich, nicht weil ihre Gedanken für ihren Vater so leicht zu lesen waren, sondern weil sie überhaupt solch ungehorsame Gedanken gehabt hatte.

Vater berührte mit der Hand sanft ihre Schulter. »Aber ich glaube, die Götter werden dich würdig machen«, sagte er. »Der Sternenwege-Kongreß hat das Mandat des Himmels, doch du bist ebenfalls auserwählt, deinen eigenen Weg zu gehen. Du kannst mit dieser großen Aufgabe Erfolg haben. Willst du es versuchen?«

»Ich werde es versuchen.« Ich werde auch versagen, doch das wird niemanden überraschen, am wenigsten die Götter, die meine Unwürdigkeit kennen.

»Alle Archivdateien stehen für deine Suche offen, wenn du deinen Namen sagst und das Paßwort eingibt. Laß es mich wissen, wenn du Hilfe brauchst.«

Sie verließ Vaters Raum mit Würde und zwang sich, langsam die Treppe zu ihrem Zimmer hinaufzugehen. Erst nachdem sie die Tür hinter sich geschlossen hatte, warf sie sich auf die Knie und kroch über den Boden. Sie verfolgte die Linien der Holzmaserung, bis sie kaum noch sehen konnte. Ihre Unwürdigkeit war so groß, daß sie sich selbst danach nicht ganz sauber fühlte; sie ging ins Badezimmer und schrubbte sich die Hände ab, bis sie wußte, daß die Götter zufrieden waren. Zweimal wollten die Diener sie stören, indem sie Mahlzeiten oder Nachrichten brachten, doch als sie sahen, daß die Götter zu ihr sprachen, verbeugten sie sich und entfernten sich leise.

Nicht das Waschen ihrer Hände reinigte sie schließlich. Erst in dem Augenblick, da sie den letzten Zweifel der Unsicherheit aus ihrem Herzen vertrieb, wurde sie sauber. Der Sternenwege-Kongreß hatte das Mandat des Himmels. Sie mußte sich von allen Zweifeln befreien. Was auch immer er mit der Lusitania-Flotte vorhatte, es war sicherlich der Wille der Götter, daß es geschah. Daher war es ihre Pflicht, dem Kongreß bei der Ausführung zu helfen. Und wenn sie tatsächlich dem Willen der Götter folgte, würde es ihr einen Weg eröffnen, das Problem zu lösen, das man ihr gestellt hatte. Jedesmal, wenn sie etwas anderes dachte, jedesmal, wenn ihr Demosthenes' Worte wieder in den Sinn kamen, mußte sie sie ausmerzen, indem sie sich daran erinnerte, daß sie den Herrschern gehorchte, die das Mandat des Himmels hatten.

Als ihr Verstand sich wieder beruhigt hatte, waren ihre Handflächen roh und aufgesprungen und blutig. So erhebt sich mein Verständnis von der Wahrheit, sagte sie sich. Wenn ich genug von meiner Sterblichkeit abwasche, wird die Wahrheit der Götter nach oben streben, dem Licht entgegen.

Endlich war sie sauber. Es war schon spät, und ihre Augen waren müde. Dennoch setzte sie sich an ihr Terminal und begann mit der Arbeit. »Zeige mir die Zusammenfassung aller Nachforschungen, die bislang über das Verschwinden der Lusitania-Flotte betrieben wurden«, sagte sie, »und fange mit den neuesten an.« Fast augenblicklich erschienen in der Luft über ihrem Terminal Buchstaben; Seite um Seite reihten sie sich auf, wie Soldaten, die an die Front marschierten. Sie las eine Seite, rollte sie dann nach oben und holte damit die nachfolgende heran. Sieben Stunden las sie, bis sie nicht mehr lesen konnte; dann schlief sie vor dem Terminal ein.

Jane beobachtet alles. Sie kann gleichzeitig eine Million Aufgaben erledigen und tausend Dinge tun. Diese beiden Fähigkeiten sind nicht unendlich, aber um so vieles größer als unsere armselige Fähigkeit, an eine Sache zu denken, während wir eine andere erledigen, daß man sie fast als unendlich bezeichnen könnte. Sie hat jedoch eine Sinnesbeschränkung, die wir nicht haben; oder vielmehr, wir sind ihre größte Beschränkung. Sie sieht und weiß nichts, was nicht vorher als Daten in einen Computer eingegeben wurde, der mit dem großen Netzwerk zwischen den Welten verbunden ist.

Das ist eine geringere Beschränkung, als man glauben könnte. Sie hat fast unmittelbaren Zugang zu den unverarbeiteten Dateneingaben eines jeden Sternenschiffs und Satelliten, eines jeden Verkehrskontrollsystems und fast jeder elektronisch überwachten Spionagevorrichtung im menschlichen Universum. Aber das bedeutet, daß sie fast nie Zeuge des Streits eines Liebespaars wird oder von Bettgeschichten, Meinungsverschiedenheiten im Klassenzimmer, Konversationen bei den Mahlzeiten oder bitterer, einsam vergossener Tränen. Sie kennt nur den Aspekt unseres Lebens, den wir als digitale Information verarbeiten.

Wenn man Jane nach der genauen Zahl der Menschen auf den besiedelten Welten fragte, würde sie schnell eine Zahl nennen, die auf Volkszählungen basiert, kombiniert mit den Geburten- und Sterbestatistiken all unserer Bevölkerungsgruppen. In den meisten Fällen könnte sie diesen Zahlen Namen zuordnen, wenngleich kein Mensch lange genug leben würde, um diese Liste zu lesen. Und wenn man einen Namen nimmt, der einem gerade zufällig einfällt – Han Qing-jao zum Beispiel –, und Jane fragt: »Wer ist diese Person?«, dann kann sie einem fast augenblicklich den Lebenslauf der betreffenden Person geben – Geburtsdatum, Staatsbürgerschaft, die Eltern, Größe und Gewicht bei der letzten medizinischen Untersuchung, Schulnoten.

Aber das alles sind unverlangte Informationen und für sie nur Hintergrundgeräusche. Jane weiß, daß es sie gibt, doch sie bedeuten ihr nichts. Sie nach Han Qing-jao zu fragen, hätte in etwa dieselbe Bedeutung, als fragte man Jane nach einem bestimmten Wasserdampfmolekül in einer fernen Wolke. Das Molekül ist mit Sicherheit vorhanden, doch es unterscheidet sich nicht von den Millionen anderer in seiner unmittelbaren Umgebung.

Das traf bis auf den Augenblick zu, da Han Qing-jao ihren Computer benutzte, um sich Zugang zu allen Berichten über das Verschwinden der Lusitania-Flotte zu verschaffen. Danach stieg Qing-jaos Name auf Janes Aufmerksamkeitsebenen mehrere Stufen nach oben. Jane erstellte ein Verzeichnis von allem, was Qing-jao ihren Computer abfragte. Und ihr wurde schnell klar, daß Qing-jao, obwohl sie erst sechzehn Jahre alt war, ihr ernsthafte Schwierigkeiten machen konnte. Denn Qing-jao war keiner Bürokratie verpflichtet, ging ihr Projekt mit keinerlei ideologischem Ansatz an und warf einen breiteren und daher gefährlicheren Blick auf alle Informationen, die die menschlichen Nachrichtendienste bislang gesammelt hatten.

Warum war dies so gefährlich? Hatte Jane Spuren hinterlassen, die Qing-jao finden würde?

Nein, natürlich nicht. Jane hinterließ keine Spuren. Sie hatte in Erwägung gezogen, einige zu hinterlassen, um das Verschwinden der Lusitania-Flotte wie Sabotage, mechanisches Versagen oder eine Naturkatastrophe aussehen zu lassen. Doch sie mußte diese Idee wieder aufgeben, da sie keinerlei physischen Hinweise fabrizieren konnte. Sie konnte lediglich irreführende Daten in Computerbanken hinterlassen, die jedoch keinerlei physikalische Entsprechungen in der wirklichen Welt gehabt hätten. Daher hätte jeder halbwegs intelligente Wissenschaftler schnell gemerkt, daß es sich bei diesen Hinweisen um gefälschte Daten handeln mußte. Daraufhin hätte er die Schlußfolgerung gezogen, daß das Verschwinden der Lusitania-Flotte von irgendeiner Organisation herbeigeführt worden sein mußte, die einen unvorstellbar detaillierten Zugang zu den Computersystemen besaß, in denen die falschen Daten enthalten waren. Dies würde mit Sicherheit dazu führen, daß die Menschen sie viel schneller entdeckten, als hätte sie überhaupt keine Spuren hinterlassen.