Es war eindeutig am vorteilhaftesten, keine Spuren zu hinterlassen; und bis Han Qing-jao mit ihren Nachforschungen begann, hatte auch alles geklappt. Eine jede ermittelnde Behörde suchte nur dort, wo sie immer suchte. Die Polizei zahlreicher Planeten überprüfte alle bekannten Dissidenten-Gruppen (und folterte mitunter verschiedene Dissidenten, bis sie sinnlose Geständnisse machten, woraufhin die Behörden Abschlußberichte verfaßten und den Fall als gelöst bezeichneten). Das Militär suchte nach Anzeichen militärischer Opposition – besonders nach außerirdischen Sternenschiffen, da das Militär die Invasion der Krabbler vor dreitausend Jahren genau in Erinnerung behalten hatte. Wissenschaftler suchten nach Anzeichen unerwarteter, unsichtbarer astronomischer Phänomene, die entweder die Zerstörung der Flotte oder den teilweisen Zusammenbruch der Verkürzer-Kommunikation erklären konnten. Die Politiker suchten nach jemandem, dem sie die Schuld in die Schuhe schieben konnten. Niemand stellte sich vor, daß es Jane geben konnte, und daher fand sie auch niemand.
Doch Han Qing-jao nahm eine genaue Durchsicht der Daten vor und setzte sorgfältig und präzise alles zusammen. Früher oder später mußte sie einfach auf Indizien stoßen, die Janes Existenz bewiesen – und damit vernichteten. Dieser Beweis bestand, einfach ausgedrückt, aus Mangel an Beweisen. Niemand sonst konnte es sehen, weil niemand sonst seine Nachforschungen vorurteilsfrei und methodisch genug durchführte.
Jane konnte jedoch nicht wissen, daß Qing-jaos anscheinend unmenschliche Geduld, die peinliche Genauigkeit, mit der sie Detail für Detail untersuchte, die ständigen Umprogrammierungen und Abänderungen der Computersuche, daß all dies das Ergebnis endloser Stunden war, die sie auf einem Holzboden kniend verbracht hatte, um sorgfältig eine Linie im Holz vom einen Ende des Brettes zum anderen zu verfolgen. Jane konnte nicht einmal ahnen, daß die große Lektion, die die Götter sie gelehrt hatten, Qing-jao zu ihrer ernsthaftesten Widersacherin machten. Jane wußte nur, daß diese Sucherin namens Qing-jao irgendwann begreifen würde, was sonst eigentlich niemand verstand: daß jede vorstellbare Erklärung für das Verschwinden der Lusitania-Flotte bereits vollständig eliminiert worden war.
Damit blieb nur noch eine einzige Schlußfolgerung: daß irgendeine Kraft, der man in der Geschichte der Menschheit noch nirgendwo begegnet war, die Macht hatte, entweder eine weit verstreute Flotte von Sternenschiffen gleichzeitig verschwinden zu lassen, oder, was genauso unwahrscheinlich war, die Verkürzer dieser Flotte alle auf einmal ausfallen zu lassen. Und wenn derselbe methodische Verstand dann anfing, mögliche Kräfte aufzulisten, die vielleicht solch eine Macht hatten, würde irgendwann auch der einzig relevante Name auf dieser Liste stehen: eine unabhängige Wesenheit, die zwischen den Philotensträngen lebte, die alle Verkürzer miteinander verband – oder besser gesagt, die aus diesen Philotensträngen bestand. Da diese Idee den Tatsachen entsprach, würden keinerlei logische Skrupel oder Forschungen sie eliminieren können. Schließlich würde allein diese Idee übrigbleiben. Und irgendwann würde sich jemand Qing-jaos Entdeckung bedienen, um Jane zu vernichten.
Also beobachtete Jane Qing-jaos Nachforschungen mit immer größerer Faszination. Diese sechzehn Jahre alte Tochter Han Fei-tzus, die 39 Kilo wog und einen Meter und sechzig groß war und der obersten sozialen und intellektuellen Klasse der chinesischen Taoistenwelt Weg angehörte, war der erste Mensch, den Jane je gefunden hatte, der mit annähernder Gründlichkeit und Präzision eines Computers und folglich auch Janes selbst vorging. Und obwohl Jane die Suche, für die Qing-jao Wochen und Monate brauchen würde, in einer Stunde abschließen könnte, lag die gefährliche Wahrheit darin, daß Qing-jao fast genau die Suche durchführte, die auch Jane selbst vorgenommen hätte; und daher bestand für Jane kein Grund für die Annahme, daß Qing-jao nicht zu der Schlußfolgerung gelangte, zu der auch Jane gelangen würde.
Qing-jao war daher Janes gefährlichster Feind, und Jane konnte sie nicht aufhalten – zumindest nicht physisch. Wenn sie versuchte, Qing-jaos Informationszugang zu blockieren, würde Jane sie nur noch schneller auf die Spur ihrer Existenz führen. Anstatt sich also offen zu widersetzen, suchte Jane nach einer anderen Möglichkeit, ihren Feind aufzuhalten. Sie verstand die menschliche Natur nicht vollkommen, doch Ender hatte ihr eins beigebracht: Wenn man einen Menschen davon abhalten wollte, etwas zu tun, mußte man dafür sorgen, daß die betreffende Person es nicht mehr tun wollte.
Kapitel 6
Varelse
›Wieso kannst du direkt mit Enders Geist sprechen?‹
›Nun, da wir wissen, wo er ist, ist das so natürlich wie die Nahrungsaufnahme.‹
›Wie hast du ihn gefunden? Ich konnte noch nie mit dem Geist von jemandem sprechen, der noch nicht ins dritte Leben übergewechselt war.‹
›Wir haben ihn durch die Verkürzer gefunden und die mit ihnen verbundene Elektronik – seinen Körper – im Raum gefunden. Um seinen Geist zu erreichen, mußten wir ins Chaos greifen und eine Brücke bilden.‹
›Eine Brücke?‹
›Ein Übergangswesen, das teilweise seinem Geist und teilweise unserem entspricht.‹
›Warum hast du ihn nicht daran gehindert, dich zu vernichten, wenn du doch seinen Geist erreichen konntest?‹
›Das menschliche Gehirn ist sehr seltsam. Bevor das, was wir dort fanden, für uns einen Sinn ergab, bevor wir lernen konnten, wie man in diesen verzerrten Raum spricht, waren all meine Schwestern und Mütter tot. Während all der Jahre, die wir im Kokon warteten, fuhren wir damit fort, seinen Geist zu studieren, bis er uns fand; als er dann kam, konnten wir direkt zu ihm sprechen.‹
›Was geschah mit der Brücke, die ihr gemacht habt?‹
›Darüber haben wir nie nachgedacht. Wahrscheinlich ist sie noch irgendwo dort draußen.‹
Die neue Kartoffelzüchtung starb ab. Ender sah die verräterischen braunen Kreise auf den Blättern, die abgebrochenen Pflanzen, wo die Stengel so spröde geworden waren, daß die leichteste Brise sie verbog, bis sie brachen. An diesem Morgen waren war sie noch gesund gewesen. Der Ausbruch dieser Krankheit war so plötzlich erfolgt, ihre Wirkung so verheerend, daß es sich nur um den Descolada-Virus handeln konnte.
Ela und Novinha würden enttäuscht sein – sie hatten so große Hoffnungen in diese Züchtung gesetzt. Ela, Enders Stieftochter, hatte an einem Gen gearbeitet, das jede Zelle in einem Organismus veranlassen sollte, drei verschiedene Chemikalien zu produzieren, von denen bekannt war, daß sie den Descolada-Virus hemmten oder abtöteten. Novinha, Enders Frau, hatte an einem Gen gearbeitet, das die Zellkerne veranlassen sollte, für jedes Molekül undurchdringlich zu werden, das größer war als ein Zehntel der Größe der Descolada. Bei dieser Kartoffelzüchtung hatten sie beide Gene eingebracht, und als die ersten Test erwiesen hatten, daß sich beide Wesenszüge durchgesetzt hatten, hatte Ender die Sämlinge zu der Experimentalfarm gebracht und dort eingepflanzt. Er und seine Assistenten hatten sie in den letzten sechs Wochen gehegt und gepflegt. Alles schien gut zu verlaufen.
Falls die Methode funktioniert hätte, hätte man sie bei allen Pflanzen und Tieren anwenden können, von denen die Menschen auf Lusitania nahrungsmäßig abhängig waren. Doch der Descolada-Virus war einfach zu gerissen – irgendwann durchschaute er all ihre Strategien. Trotzdem waren sechs Wochen besser als die normalen zwei oder drei Tage. Vielleicht waren sie auf dem richtigen Weg.