Oder vielleicht waren die Dinge bereits zu weit fortgeschritten. Damals, als Ender auf Lusitania eingetroffen war, überstanden neue Züchtungen von irdischen Pflanzen und Tieren zumindest mehr als zwei Jahre auf den Feldern, bevor der Descolada-Virus ihre genetischen Moleküle dekodierte und sie zerriß. Doch in den letzten Jahren hatte der Descolada-Virus anscheinend einen Durchbruch erzielt, der es ihm erlaubte, jedes Molekül von der Erde in Tagen oder sogar Stunden zu dekodieren.
Heutzutage war es den menschlichen Kolonisten nur möglich, ihre Pflanzen zu ziehen und Tiere zu züchten, weil sie ein Spray einzusetzen, das für den Descolada-Virus augenblicklich tödlich war. Es gab menschliche Kolonisten, die den ganzen Planeten besprühen und den Descolada-Virus ein für alle Mal auslöschen wollten.
Einen ganzen Planeten zu besprühen war zwar unpraktisch, aber nicht unmöglich; andere Gründe sprachen gegen diesen Vorschlag. Jede einheimische Lebensform des Planeten war bei ihrer Reproduktion völlig vom Descolada-Virus abhängig. Das galt auch für die Schweinchen – die Pequeninos, die Intelligenzwesen dieser Welt –, deren Reproduktionszyklus unausweichlich mit der einzigen einheimischen Baumspezies verknüpft war. Sollte der Descolada-Virus vernichtet werden, würde diese Generation Pequeninos die letzte sein. Es wäre Xenozid.
Bislang war die Vorstellung, irgend etwas zu tun, was die Schweinchen auslöschen wurde, nachdrücklich von den meisten Menschen auf Lusitania zurückgewiesen worden. Bislang. Doch Ender wußte, daß viele es sich anders überlegen würden, sobald ein paar weitere Fakten bekanntgemacht werden würden. Zum Beispiel wußte nur eine Handvoll Menschen, daß sich die Descolada bereits zweimal an die Chemikalien angepaßt hatte, die sie benutzten, um sie zu töten. Ela und Novinha hatten bereits mehrere neue Versionen der Chemikalie entwickelt, um bei der nächsten Anpassung der Descolada sofort auf ein anderes Virizid zurückgreifen zu können. Ebenso hatten sie einmal versucht, den Descolada-Hemmer zu verändern, der verhinderte, daß die Menschen an dem Descolada-Virus starben, der sich im Körper eines jeden Mitglieds der Kolonie befand. Alle Nahrungsmittel der Kolonie wurden mit dem Hemmer versetzt, so daß jeder Mensch ihn mit jeder Mahlzeit zu sich nahm.
Doch alle Hemmer und Virizide beruhten auf denselben grundlegenden Prinzipien. Genau wie der Descolada-Virus gelernt hatte, sich im allgemeinen an die auf der Erde geborenen Gene anzupassen, würde er auch lernen, wie er mit den unterschiedlichen Chemikalien fertig würde, und dann spielte es keine Rolle mehr, wie viele neue Versionen sie hatten – die Descolada würde ihre Vorräte innerhalb von ein paar Tagen vernichten.
Nur ein paar Menschen wußten, wie unsicher das Überleben der Lusitania-Kolonie in Wirklichkeit war. Nur ein paar Menschen begriffen, wieviel von der Arbeit abhing, die Ela und Novinha als Lusitanias Xenobiologen leisteten; wie knapp ihr Wettlauf mit der Descolada war; wie verheerend die Folgen sein würden, gerieten sie jemals ins Hintertreffen.
Auch gut. Wenn die Kolonisten es wüßten, würden viele sagen: Wenn es unausweichlich ist, daß uns die Descolada eines Tages überwältigen wird, sollten wir sie jetzt auslöschen. Wir bedauern, daß dadurch alle Schweinchen sterben, doch wenn es heißt, wir oder sie, dann entscheiden wir uns für uns.
Es war gut und schön, daß Ender die Dinge langfristig betrachtete, aus der philosophischen Perspektive gewissermaßen, und sagte: Besser, eine kleine Menschenkolonie wird ausgelöscht, als daß eine ganze vernunftbegabte Rasse stirbt. Er wußte, daß er mit diesem Argument bei den Menschen auf Lusitania nichts erreichen konnte. Ihr eigenes Leben stand hier auf dem Spiel und das Leben ihrer Kinder; es wäre absurd, von ihnen die Bereitschaft zu erwarten, für eine andere Rasse in den Tod zu gehen, die sie nicht verstanden und die nur die wenigsten von ihnen überhaupt mochten. Es ergab genetisch keinen Sinn – die Evolution ermutigt nur Geschöpfe, die darauf bedacht sind, ihre eigenen Gene zu schützen. Selbst wenn der Bischof persönlich erklären würde, es sei der Wille Gottes, daß die Menschen von Lusitania ihr Leben für die Schweinchen aufgaben, würden ihm kaum jemand gehorchen.
Ich bin mir nicht sicher, ob ich selbst solch ein Opfer bringen würde, dachte Ender. Obwohl ich keine Kinder habe. Obwohl ich bereits die Vernichtung einer bewußten Rasse miterlebt habe – obwohl ich diese Vernichtung selbst ausgelöst habe und weiß, welch eine schreckliche moralische Last das ist –, bin ich mir nicht sicher, ob ich meine Mitmenschen dem Tod ausliefern könnte.
Und doch – könnte ich der Vernichtung der Pequeninos zustimmen? Könnte ich einen weiteren Xenozid zulassen?
Er nahm einen der abgebrochenen Kartoffelstengel mit den fleckigen Blättern auf. Er würde ihn natürlich Novinha bringen müssen. Novinha – oder Ela – würde ihn untersuchen, und sie würden bestätigen, was bereits offensichtlich war. Noch ein Fehlschlag. Er steckte den Kartoffelstengel in einen sterilen Beutel.
»Sprecher.«
Es war Pflanzer, Enders Assistent und engster Freund unter den Schweinchen. Pflanzer war ein Sohn des Pequeninos namens Mensch, den Ender ins ›dritte Leben‹ geführt hatte, das Baumstadium des Lebenszyklus der Pequeninos. Ender hielt den durchsichtigen Plastikbeutel hoch, damit Pflanzer die Blätter darin sehen konnte.
»Wirklich sehr tot, Sprecher«, sagte Pflanzer ohne jede erkennbare Gefühlsregung. Das war am Anfang das Unangenehmste bei der Arbeit mit den Pequeninos gewesen – sie zeigten keine Gefühle, die die Menschen leicht und gewohnheitsmäßig deuten konnten. Diese Eigenschaft war ausschlaggebend dafür, daß die meisten Kolonisten die Schweinchen nicht akzeptierten. Die Schweinchen waren nicht niedlich oder süß; sie waren lediglich fremd.
»Wir versuchen es noch einmal«, sagte Ender. »Ich glaube, wir kommen der Sache näher.«
»Deine Gattin will dich sprechen«, sagte Pflanzer. Das Wort Gattin, selbst in eine Menschensprache wie Stark übersetzt, war für einen Pequenino so voller Spannungen, daß er das Wort kaum natürlich aussprechen konnte – Pflanzer kreischte es fast.
»Ich wollte sowieso gerade zu ihr«, sagte Ender. »Würdest du bitte diese Kartoffeln ausmessen und aufzeichnen?«
Pflanzer sprang buchstäblich hoch – wie ein Popcorn, dachte Ender. Obwohl sein Gesicht für menschliche Augen ausdruckslos blieb, drückte der vertikale Sprung seine Freude aus. Pflanzer arbeitete liebend gern mit der elektronischen Ausrüstung, weil Maschinen ihn faszinierten und es seinen Status unter den anderen männlichen Pequeninos beträchtlich erhöhte. Pflanzer schickte sich augenblicklich an, die Kamera und den dazugehörigen Computer aus der Tasche zu holen, die er immer bei sich trug.
»Wenn du fertig bist, bereitest du dieses Feld bitte für das Abblitzen vor«, sagte Ender.
»Ja, ja«, sagte Pflanzer. »Ja, ja, ja.«
Ender seufzte. Pequeninos ärgerten sich maßlos, wenn Menschen ihnen etwas sagten, was sie bereits wußten. Pflanzer kannte die Routine, die ablief, wenn die Descolada sich an eine neue Züchtung angepaßt hatte – der »gelehrige« Virus mußte vernichtet werden, solange er noch isoliert war. Sie mußten verhindern, daß sämtliche Descolada-Viren davon profitierten, was dieser Strang gelernt hatte. Und doch befriedigten die Menschen so ihr Verantwortungsgefühl – sie vergewisserten sich noch einmal, obwohl sie wußten, daß es überflüssig war.
Pflanzer war so beschäftigt, daß er kaum bemerkte, daß Ender das Feld verließ. Als Ender im Isolationsschuppen am Ende des Feldes war, das der Stadt am nächsten lag, zog er sich aus, steckte seine Kleidung in den Reinigungskasten und vollführte dann den Reinigungstanz – er streckte die Hände nach oben aus, ließ die Arme an den Schultern rotieren, drehte sich im Kreis, bückte sich und richtete sich wieder auf, damit kein Teil seines Körpers von der Kombination aus Strahlung und Gasen, die den Schuppen ausfüllte, verfehlt wurde. Er atmete tief durch Mund und Nase ein und hustete dann wie gewöhnlich, weil die Gase kaum in der menschlichen Toleranzschwelle lagen. Drei volle Minuten mit tränenden Augen und brennenden Lungen, während er mit den Armen winkte und sich hinhockte und wieder aufstand: ein Ritual des Gehorsams für die allmächtige Descolada. So erniedrigen wir uns vor dem unbestrittenen Herren des Lebens auf diesem Planeten.