Jiang-qing hatte recht. Ohne sie, die sie seine Seele vervollständigte, zweifelte er bereits an den Göttern. Und die Götter hatten es bemerkt – sie bemerkten es immer. Plötzlich verspürte er den unwiderstehlichen Drang, das Ritual der Reinigung durchzuführen, bis er seine unwürdigen Gedanken verloren hatte. Selbst jetzt konnten sie ihn nicht unbestraft lassen. Selbst jetzt, wo seine Frau tot vor ihm lag, beharrten die Götter darauf, daß er ihnen Gehorsam leistete, bevor er auch nur eine einzige Träne der Trauer um sie vergießen konnte.
Zuerst wollte er seinen Gehorsam verzögern, zurückstellen. Er hatte sich beigebracht, das Ritual um einen ganzen Tag aufzuschieben, während er alle äußerlichen Anzeichen seiner innerlichen Qual verbarg. Ihm gelang das jetzt – aber nur, indem er sein Herz völlig kalt hielt. Und das war sinnlos. Angemessene Trauer konnte nur kommen, nachdem er die Götter zufriedengestellt hatte. Noch während er dort kniete, begann er mit dem Ritual.
Er zuckte noch und drehte sich, wie das Ritual es vorschrieb, als ein Diener verstohlen in den Raum sah. Obwohl der Diener nichts sagte, hörte Han Fei-tzu das schwache Gleiten der Tür und wußte, was der Diener schließen würde: Jiang-qing war tot, und Han Fei-tzu war so rechtschaffen, daß er mit den Göttern kommunizierte, noch bevor er dem Haushalt von ihrem Tod berichtete. Zweifellos würden einige sogar vermuten, daß die Götter gekommen waren, um Jiang-qing zu holen, da sie für ihre außerordentliche Heiligkeit bekannt war. Niemand würde argwöhnen, Han Fei-tzus Herz könne noch in dem Augenblick, da er betete, voller Verbitterung darüber sein, daß die Götter selbst in diesem Augenblick Gehorsam von ihm zu verlangen wagten.
O Götter, dachte er, wenn ich wüßte, daß ich euch für immer los sein könnte, wenn ich mir einen Arm abtrennte oder die Leber herausschnitte, ich würde nach dem Messer greifen und den Schmerz und Verlust gern hinnehmen, nur um frei zu sein.
Auch dieser Gedanke war unwürdig und verlangte noch mehr Reinigung. Es dauerte Stunden, bevor die Götter ihn endlich freigaben, und dann war er zu müde, und ihm war zu elend zumute, um zu trauern. Er erhob sich und holte die Frauen, damit sie Jiang-qings Leiche für die Verbrennung vorbereiteten.
Um Mitternacht kam er als letzter zum Scheiterhaufen, eine schläfrige Qing-jao in den Armen. Sie hatte die Finger fest um die drei Zettel geschlossen, die sie mit ihrem kindlichen Gekritzel für ihre Mutter geschrieben hatte. ›Fisch‹, hatte sie geschrieben, und ›Buch‹ und ›Geheimnisse‹. Das waren die Dinge, die Qing-jao ihrer Mutter mit in den Himmel gab. Han Fei-tzu hatte versucht, sich die Gedanken vorzustellen, die Qing-jao gehabt haben mochte, als sie diese Worte niederschrieb. Fisch zweifellos wegen der Karpfen im Bach im Garten. Und Buch – das war leicht zu verstehen, denn bis zum Schluß hatte Jiang-qing ihrer Tochter laut vorlesen können. Aber warum Geheimnisse? Welche Geheimnisse hatte Qing-jao für ihre Mutter gehabt? Er konnte sie nicht fragen. Man spricht nicht über die Zettel, die man den Toten mitgibt.
Han Fei-tzu stellte Qing-jao auf die Füße; sie hatte nicht fest geschlafen, so daß sie augenblicklich aufwachte und langsam blinzelte. Han Fei-tzu flüsterte ihr etwas zu, und sie rollte ihre Zettel zusammen und steckte sie in die Ärmel der Mutter. Sie schien nichts dagegen zu haben, die kalte Haut ihrer Mutter zu berühren – sie war noch zu jung, um gelernt zu haben, bei der Berührung des Todes zu erschaudern.
Auch Han Fei-tzu scheute nicht davor zurück, die Haut seiner Frau zu berühren, als er seine drei Zettel in den anderen Ärmel steckte. Was sollte er sich nun vor dem Tod fürchten, wo er seine schlimmste Arbeit schon verrichtet hatte?
Niemand wußte, was auf seinen Zetteln geschrieben stand. Die anderen wären entsetzt gewesen, denn er hatte geschrieben: ›Mein Körper‹, ›Mein Geist‹ und ›Meine Seele‹. So verbrannte er sich auf Jiang-qings Scheiterhaufen ebenfalls und begleitete sie, wohin sie auch ging.
Dann legte Mu-pao, Jiang-qings geheime Magd, die Fackel an das heilige Holz, und der Scheiterhaufen brach in Flammen aus. Die Hitze des Feuers war schmerzhaft, und Qing-jao versteckte sich hinter ihrem Vater und spähte nur gelegentlich um ihn herum, um ihre Mutter bei ihrem Aufbruch auf ihrer endlosen Reise zu beobachten. Han Fei-tzu jedoch hieß die trockene Hitze willkommen, die seine Haut versengte und die Seide seiner Robe spröde machte. Ihr Körper war nicht so ausgetrocknet gewesen, wie es den Anschein gehabt hatte; lange, nachdem sich die Zettel zu Asche zusammengezogen hatten und in den Rauch des Feuers hochgeblasen worden waren, zischte ihre Leiche noch immer, und der schwere Weihrauch, der überall um das Feuer herum brannte, konnte den Geruch des verbrennenden Fleisches nicht vor ihm verbergen. Das ist es, was wir hier verbrennen: Haut, Fleisch, Aas, nichts. Nicht meine Jiang-qing. Nur die Gestalt, die sie in diesem Leben getragen hatte. Das, was diese Leiche zu der Frau machte, die ich liebte, ist noch am Leben, muß noch am Leben sein. Und einen Augenblick lang glaubte er, er könne sehen, oder hören, oder irgendwie fühlen, wie Jiang-qing überging. In die Luft, in die Erde, in das Feuer. Ich bin bei dir.
Kapitel 2
Eine Begegnung
›Das Seltsamste an den Menschen ist, wie sich die Männer und Frauen zusammenfinden. Sie liegen ständig im Krieg miteinander, können sich nie in Ruhe lassen. Sie scheinen einfach nicht zu begreifen, daß Männer und Frauen zwei verschiedene Spezies mit völlig anderen Bedürfnissen und Wünschen sind, die lediglich zusammenkommen müssen, um sich zu fortzupflanzen.‹
›Natürlich empfindest du so. Deine Paarungsgefährten sind nur verstandlose Drohnen, Ausweitungen deines Ichs, ohne eigene Identität.‹
›Wir kennen unsere Liebhaber und haben ein perfektes Verständnis für sie. Die Menschen erfinden einen imaginären Liebhaber und legen diese Maske auf das Gesicht des Körpers in ihrem Bett.‹
›Das ist die Tragik der Sprache, mein Freund. Die, die einander nur durch symbolische Darstellungen kennen, sind gezwungen, einander vorzustellen. Und weil ihre Vorstellungskraft nicht vollkommen ist, irren sie sich oft.‹
›Das ist die Quelle ihres Elends.‹
›Und zum Teil auch ihrer Kraft, glaube ich. Dein Volk und meins paaren sich, jeweils aus eigenen evolutionsbedingten Gründen, mit völlig verschiedenartigen Partnern. Unsere Partner sind uns intellektuell immer hoffnungslos unterlegen. Menschen paaren sich mit Wesen, die ihre Überlegenheit herausfordern. Es gibt Konflikte zwischen den Partnern, aber nicht, weil ihre Kommunikation der unseren unterlegen ist, sondern weil sie überhaupt miteinander kommunizieren.‹
Valentine Wiggin las ihren Aufsatz noch einmal durch und nahm hier und da ein paar Korrekturen vor. Als sie fertig war, standen die Worte über ihrem Computerterminal in der Luft. Sie war sehr mit sich zufrieden, Rymus Ojman, den Vorsitzenden des Kabinetts des Sternenwege-Kongresses, so deftig und ironisch auseinandergenommen zu haben.
»Haben wir einen weiteren Angriff auf die Herren der Hundert Welten abgeschlossen?«
Valentine drehte sich nicht zu ihrem Mann um. Anhand seiner Stimme wußte sie genau, was für ein Ausdruck auf seinem Gesicht lag, und so erwiderte sie das Lächeln, ohne ihn anzusehen. Nach fünfundzwanzig Jahren Ehe konnten sie einander deutlich sehen, ohne hinschauen zu müssen. »Wir haben Rymus Ojman ins Lächerliche gezogen.«