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Ender hatte keine Schwierigkeiten, sich mit Mensch als Person zu befassen, denn er hatte schon oft mit diesem Vaterbaum gesprochen. Es gelang ihm nur nicht, sich diesen Baum als dieselbe Person vorzustellen, die er als Mensch gekannt hatte. Vom Intellekt her verstand Ender durchaus, daß der Wille und die Erinnerungen die Identität einer Person ausmachten und daß Wille und Erinnerungen intakt vom dem Pequenino in den Vaterbaum gewechselt waren. Doch es machte einen Unterschied, ob man etwas mit dem Intellekt oder aus dem Bauch heraus verstand. Mensch war jetzt so fremd.

Doch er war noch immer Mensch und noch immer Enders Freund. Ender berührte im Vorbeigehen die Borke des Baumes. Dann wich er ein paar Schritte von seinem Weg ab, ging zu dem älteren Vaterbaum namens Wühler und berührte auch dessen Borke. Er hatte Wühler nie als Pequenino gekannt – er war durch andere Hand gestorben, und sein Baum war bereits groß und breit, als Ender auf Lusitania eingetroffen war. Wenn Ender mit Wühler sprach, plagte ihn kein Gefühl des Verlusts.

Zwischen Wühlers Wurzeln lagen zahlreiche Stöcke. Einige waren hierher gebracht, andere aus Wühlers Ästen geschnitten worden. Es waren Sprechstöcke. Die Pequeninos benutzten sie, um einen Rhythmus auf den Stamm eines Vaterbaums zu schlagen; der Vaterbaum wandelte daraufhin die Hohlräume in seinem Stamm ab, um den Klang zu verändern und langsam zu sprechen. Ender konnte den Rhythmus schlagen – unbeholfen, aber noch so deutlich, um eine Antwort von den Bäumen zu erhalten.

Heute jedoch lag Ender nichts an einem Gespräch. Sollte Pflanzer den Vaterbäumen berichten, daß ein weiteres Experiment fehlgeschlagen war. Ender würde später mit Wühler und Mensch sprechen. Er würde mit der Schwarmkönigin reden. Er würde mit Jane sprechen. Er würde mit allen sprechen. Und nach den Gesprächen würden sie einer Lösung für irgendeins der Probleme, die Lusitanias Zukunft bedrohten, nicht näher sein. Weil die Lösung ihrer Probleme nun nicht mehr von Gesprächen abhing. Sie hing von Wissen und Taten ab – Wissen, das nur andere Menschen lernen konnten, Taten, die nur andere Menschen vollbringen konnten. Ender selbst konnte zur Lösung der Probleme nichts beitragen.

Er konnte nur zuhören und sprechen. Zu anderen Zeiten, anderen Orten, hatte das genügt. Jetzt nicht mehr. Die Vernichtung schwebte drohend in mannigfacher Gestalt über Lusitania. Einige Ausprägungen davon hatte Ender selbst heraufbeschworen, und doch konnte keine einzige durch eine Tat, ein Wort oder einen Gedanken Andrew Wiggins gelöst werden. Wie die aller anderen Bewohner Lusitanias lag auch seine Zukunft in den Händen anderer Menschen. Der Unterschied zwischen ihm und den anderen war, daß Ender alle Gefahren kannte, alle möglichen Konsequenzen eines jeden Fehlschlags oder Fehlers. Auf wem lag der größere Fluch, auf dem, der bis zum Augenblick seines Todes unwissend bleibt, oder dem, der tage-, wochen-, jahrelang beobachtet, wie sich das Ende Schritt für Schritt nähert?

Ender verließ den Vaterbaum und ging über den ausgetretenen Weg zur Menschensiedlung. Durch das Tor, durch die Tür des Xenobiologie-Labors. Der Pequenino, der als Elas vertrauenswürdigster Assistent diente – er hieß Taub, obwohl er eindeutig nicht schwerhörig war –, führte ihn sofort zu Novinhas Büro, wo Ela, Novinha, Quara und Grego bereits auf ihn warteten. Ender hielt den Beutel mit dem Teil der Kartoffelpflanze hoch.

Ela schüttelte den Kopf; Novinha seufzte. Aber sie wirkten nicht halb so enttäuscht, wie Ender es erwartet hatte. Es beschäftigte sie eindeutig etwas anderes.

»Damit mußten wir wohl rechnen«, sagte Novinha.

»Wir mußten es trotzdem versuchen«, sagte Ela.

»Warum mußten wir es versuchen?« fragte Grego. Novinhas jüngster Sohn – und demzufolge Enders Stiefsohn – war jetzt Mitte Dreißig und selbst ein brillanter Wissenschaftler; doch bei allen Diskussionen in der Familie schien er die Rolle des Advokaten des Teufels einzunehmen, ob es nun um Xenobiologie ging oder die Farbe der neuen Tapeten. »Indem wir diese neuen Züchtungen pflanzen, bringen wir der Descolada doch nur bei, wie sie jeder Strategie ausweichen kann, mit der wir sie töten wollen. Wenn wir sie nicht bald ausmerzen, wird sie uns ausmerzen. Und sobald die Descolada ausgemerzt ist, können wir normale alte Kartoffeln ohne diesen Unsinn pflanzen.«

»Das können wir nicht!« rief Quara. Ihre Nachdrücklichkeit überraschte Ender. Quara ergriff nur selten das Wort; diese Lautstärke entsprach ganz und gar nicht ihrem Charakter. »Ich sage euch, die Descolada ist ein Lebewesen.«

»Und ich sage euch, ein Virus ist ein Virus«, sagte Grego.

Es störte Ender, daß Grego die Ausmerzung der Descolada verlangte – es entsprach ihm gar nicht, so leicht etwas zu fordern, das die Pequeninos vernichten würde. Er war praktisch unter Pequeninomännchen aufgewachsen – er kannte sie besser, sprach ihre Sprache besser als jeder andere.

»Kinder, seid ruhig und laßt es mich Ender erklären«, sagte Novinha. »Wir sprachen darüber, was wir tun sollen, wenn auch diese Kartoffelzüchtung ein Fehlschlag ist, Ela und ich, und sie hat gesagt… nein, erkläre du es, Ela.«

»Der Plan ist doch ganz einfach. Anstatt Pflanzen zu züchten, die den Wuchs des Descolada-Virus hemmen, müssen wir an den Virus selbst heran.«

»Genau«, sagte Grego.

»Halt die Klappe«, sagte Quara.

»Bitte, tue uns allen den Gefallen, Grego, und erfülle deiner Schwester ihre höfliche Bitte«, sagte Novinha.

Ela seufzte und fuhr fort. »Wir können ihn nicht einfach töten, weil wir damit auch alles andere einheimische Leben auf Lusitania töten würden. Ich schlage also vor, eine neue Descolada-Züchtung zu entwickeln, die sich beim Fortpflanzungszyklus aller Lebensformen von Lusitania genauso verhält wie der derzeitige Virus, aber nicht die Fähigkeit hat, sich an neue Spezies anzupassen.«

»Du kannst diesen Teil des Virus eliminieren?« fragte Ender. »Du kannst ihn finden?«

»Wahrscheinlich nicht. Aber ich glaube, ich kann alle Teile des Virus finden, die bei den Schweinchen und allen anderen Tier-Pflanzen-Paaren aktiv sind, diese bewahren und alle anderen fallenlassen. Dann fügen wir eine rudimentäre Reproduktionsfähigkeit hinzu und lassen uns ein paar Rezeptoren einfallen, damit der neue Virus richtig auf die entsprechenden Veränderungen in den Gastkörpern reagiert, stecken die ganze Sache in ein kleines Organell, und dann hätten wir es – ein Ersatz für die Descolada, damit die Pequeninos und alle anderen einheimischen Spezies sicher sind, während wir ohne Angst leben können.«

»Du willst den ursprünglichen Descolada-Virus besprühen, um ihn auszumerzen?« fragte Ender. »Was ist, wenn es bereits einen resistenten Strang gibt?«

»Nein, wir besprühen sie nicht, denn damit könnten wir nicht die Viren ausmerzen, die sich bereits im Körper eines jeden Geschöpfs auf Lusitania befinden. Das ist der wirklich komplizierte Teil…«

»Als ob der Rest einfach wäre«, sagte Novinha, »ein neues Organell aus dem Nichts zu schaffen…«

»Wir können diese Organellen nicht einfach in ein paar Schweinchen injizieren oder sogar in alle von ihnen, weil wir sie dann auch in jedes andere einheimische Tier, in jeden Baum und Grashalm injizieren müßten.«

»Das ist unmöglich«, sagte Ender.

»Also müssen wir einen Mechanismus entwickeln, der die Organellen überall verbreitet und gleichzeitig die alten Descolada-Viren ein für alle Mal vernichtet.«

»Xenozid«, sagte Quara.

»Das ist der Streitpunkt«, sagte Ela. »Quara behauptet, die Descolada habe ein Bewußtsein.«

Ender musterte seine jüngste Stieftochter. »Ein bewußtes Molekül?«

»Sie haben eine Sprache, Andrew.«

»Wann ist das passiert?« fragte Ender. Er versuchte sich vorzustellen, wie ein genetisches Molekül – selbst eins, das so komplex wie der Descolada-Virus war – möglicherweise sprechen könnte.