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Nun saß er auf der Brücke des Frachters, der den Sprecher für die Toten erst vor ein paar Monaten nach Lusitania gebracht hatte. Er schreckte vor dem Rendezvous mit Valentines Schiff zurück. Wäre ihm ein anderer Ort eingefallen, wohin er gehen könnte, er wäre vielleicht dorthin gegangen – er hatte nicht den geringsten Wunsch, Andrews Schwester Valentine oder sonst jemandem zu begegnen. Er wäre zufrieden gewesen, auf ewig allein in dem Sternenschiff bleiben zu können und nur mit Jane zu sprechen.

Aber das konnte er nicht. Er würde nie wieder zufrieden sein.

Zumindest waren diese Valentine und ihre Familie eine neue Erfahrung. Auf Lusitania kannte er jeden oder zumindest jeden, an dem ihm etwas lag – die gesamte wissenschaftliche Gemeinde dort, die Menschen mit Bildung und Verständnis. Er kannte sie alle so gut, daß er nicht umhin konnte, ihr Mitleid zu sehen, ihre Trauer darüber, was aus ihm geworden war. Wenn sie ihn musterten, konnten sie nur den Unterschied zwischen dem sehen, was er zuvor gewesen und was aus ihm geworden war.

Es bestand die Möglichkeit, daß neue Menschen – Valentine und ihre Familie – imstande waren, ihn anzuschauen und etwas anderes in ihm zu sehen.

Doch auch das war unwahrscheinlich. Fremde würden ihn anschauen und weniger als die sehen, die ihn gekannt hatten, bevor er zum Krüppel geworden war. Zumindest wußten Mutter, Andrew, Ela und Ouanda und all die anderen, daß er einen Verstand hatte, daß er imstande war, Ideen zu verstehen. Was werden neue Menschen denken, wenn sie mich sehen? Sie werden einen Körper sehen, der bereits verkümmert ist; sie werden meinen schlurfenden Gang sehen; sie werden mich beobachten, wie ich Hände wie Klauen benutze, wie ein dreijähriges Kind einen Löffel umklammere; sie werden meine dumpfe, halb verständliche Stimme hören; und sie werden annehmen, daß solch ein Mensch keine komplizierten oder schwierigen Dinge verstehen kann.

Warum bin ich hierher gekommen?

Ich bin nicht gekommen. Ich ging. Ich bin nicht hierher gekommen, um diese Menschen zu treffen. Ich bin dort aufgebrochen. Gegangen. Nur habe ich mich selbst belogen. Ich dachte daran, auf eine Reise von dreißig Jahren zu gehen, doch so wird es nur ihnen vorkommen. Für mich sind nur anderthalb Wochen vergangen. Überhaupt keine Zeit. Und schon ist meine Zeit der Einsamkeit vorbei. Die Zeit, die ich allein mit Jane verbracht habe, die mir zuhört, als sei ich noch ein menschliches Wesen, ist verstrichen.

Beinahe. Beinahe hätte er die Worte gesprochen, die das Rendezvous abgebrochen hätten. Er hätte Andrews Sternenschiff stehlen und auf eine Reise gehen können, die ewig gedauert hätte, ohne daß er noch einmal einer anderen lebenden Seele gegenübertreten mußte.

Doch solch ein nihilistischer Akt entsprach ihm nicht, noch nicht. Er war zum Schluß gekommen, daß er noch nicht verzweifelt hatte. Vielleicht konnte er noch etwas tun, was ihm eine Rechtfertigung gab, in diesem Körper weiterzuleben. Und vielleicht würde es damit beginnen, daß er sich mit Andrews Schwester traf.

Die Schiffe vereinigten sich nun; ihre Nabelschnüre schlängelten sich hinaus und tasteten suchend, bis sie einander berührten. Miro sah auf den Monitoren zu und lauschte den Computerberichten über jede erfolgreiche Verbindung. Die Schiffe vereinigten sich auf jede mögliche Art und Weise, so daß sie den Rest der Reise nach Lusitania im perfekten Zweiergespann zurücklegen konnten. Sie würden alle Hilfsmittel miteinander teilen. Da es sich bei Miros Schiff um einen Frachter handelte, konnte es kaum mehr als eine Handvoll Menschen aufnehmen, dafür aber einen beträchtlichen Teil der lebensnotwendigen Vorräte des anderen Schiffes; gemeinsam errechneten die beiden Bordcomputer ein perfektes Gleichgewicht.

Nachdem sie die beste Verteilung der Fracht ermittelt hatten, errechneten sie genau, wie schnell jedes Schiff beschleunigen konnte, damit beide wieder in perfektem Gleichklang annähernde Lichtgeschwindigkeit erreichten. Es war eine äußerst heikle und komplizierte Abstimmung zwischen den beiden Computern nötig, die genau wissen mußten, welche Lasten ihre Schiffe beförderten und was sie leisten konnten. Sie war abgeschlossen, bevor die Passagierröhre die beiden Schiffe vollständig miteinander verbunden hatte.

Miro hörte schlurfende Schritte im Gang, der von der Röhre zur Brücke führte. Er drehte seinen Stuhl und sah, wie sie auf ihn zukam. Sie ging etwas gebückt, ihr Haar weiß, mit ein paar mausgrauen Strähnen. Als sie stehen blieb, betrachtete er abschätzend ihr Gesicht. Alt, aber nicht ältlich. Falls sie angesichts dieser Begegnung Nervosität empfand, zeigte sie sie nicht. Aber andererseits hatte sie nach allem, was Andrew und Jane ihm über sie erzählt hatten, schon eine Menge Leute kennengelernt, die wesentlich furchterregender waren als ein zwanzigjähriger Krüppel.

»Miro?« fragte sie.

»Wer sonst?« sagte er.

Sie brauchte einen Augenblick, nur einen Herzschlag, um die seltsamen Geräusche zu verstehen, die aus seinem Mund kamen.

»Ich bin Valentine«, sagte sie.

»Ich weiß«, gab er zurück. Er machte die Sache mit seinen lakonischen Erwiderungen nicht gerade einfacher, aber was sonst gab es zu sagen? Es handelte sich nicht gerade um eine Begegnung zwischen Staatsführern, bei der eine Reihe lebenswichtiger Entscheidungen getroffen werden mußte. Doch er mußte sich etwas Mühe geben, um nicht feindselig zu wirken.

»Dein Name, Miro – er bedeutet ›Ich schaue hin‹, nicht wahr?«

»Ich schaue genau hin. Vielleicht auch ›Ich schenke Beachtung‹.«

»Es ist wirklich nicht so schwer, dich zu verstehen«, sagte Valentine.

Es verblüffte ihn, daß sie die Sache so offen ansprach.

»Ich glaube, ich habe mehr Probleme mit deinem portugiesischen Akzent als mit dem Gehirnschaden.«

Einen Augenblick lang hämmerte sein Herz wie verrückt – sie sprach offener über seine Lage als jeder andere, von Andrew einmal abgesehen. Aber andererseits war sie auch Andrews Schwester. Er hätte damit rechnen müssen, daß sie kein Blatt vor den Mund nahm.

»Oder ziehst du es vor, daß wir so tun, als gäbe es keine Barriere zwischen dir und anderen Menschen?«

Anscheinend hatte sie seine Erschütterung gespürt. Doch nun kam ihm in den Sinn, daß er wahrscheinlich nicht wütend, sondern eher froh sein sollte, daß sie das Thema nicht verschweigen mußten. Und trotzdem war er wütend, und er brauchte einen Augenblick, bis er den Grund dafür erkannte.

»Mein Gehirnschaden ist nicht dein Problem«, sagte er.

»Wenn er es mir erschwert, dich zu verstehen, ist er ein Problem, mit dem ich mich befassen muß. Sei nicht schon eingeschnappt, junger Mann. Ich habe gerade erst angefangen, dich zu ärgern, und du hast erst angefangen, mich zu ärgern. Also sei nicht sauer, weil ich deinen Gehirnschaden irgendwie als mein Problem hingestellt habe. Ich habe nicht die geringste Absicht, jedes meiner Worte auf die Goldwaage zu legen, aus Angst, ich könnte einen überempfindlichen jungen Mann beleidigen, der der Ansicht ist, die ganze Welt drehe sich um seine Enttäuschungen.«

Miro war außer sich vor Zorn, daß sie schon ein Urteil über ihn gefällt hatte. Es war zudem unfair – und entsprach gar nicht dem, was er von einer Autorin von Demosthenes' Bedeutung erwartet hatte. »Ich glaube nicht, daß sich die ganze Welt um meine Enttäuschungen dreht! Aber glaube du nicht, du könntest hier hereinplatzen und auf meinem Schiff die Dinge in die Hand nehmen!« Das war es, was ihn verärgerte, nicht ihre Worte. Sie hatte recht – ihre Worte waren nichts. Es war ihre Einstellung, ihr vollständiges Selbstvertrauen. Er war es nicht gewöhnt, daß die Menschen ihn ohne Betroffenheit oder Mitleid betrachteten.