»Nein.«
»Und sonst wollte es auch keiner.«
»Dem Buch zufolge hatte sie einen Liebhaber«, sagte ich.
»So?«
Valentine dachte nach. »Das höre ich zum erstenmal«, sagte er. »Andererseits könnte Dorothea hier vor meiner Nase einen Liebhaber haben, ohne daß mich das jucken würde. Schön für sie, wenn sie einen hat.«
»Sie sind ein alter Schelm, Valentine.«
»Niemand ist ein Engel«, sagte er.
Ich sah auf seinen leeren Sessel und dachte an seine verzweifelten leisen Worte. »Ich habe den Jungen aus Cornwall umgebracht.«
Vielleicht war der »Junge aus Cornwall« ein Pferd.
Schritte ertönten auf dem Weg draußen, und es klingelte an der Tür, dingdong. Ich wartete, damit es nicht aussah, als wollte ich den von Paul begehrten Status des Haushaltsvorstandes an mich reißen, aber es war dann doch Dorothea, die öffnete.
»Nur herein, Robbie«, sagte sie, und ihre Erleichterung war nicht zu überhören. »Nett, daß Sie gekommen sind.«
»Aber Ihr Sohn.!«
In der Stimme des Arztes lag Abneigung.
»Ja, tut mir leid«, sagte Dorothea beschwichtigend.
»Sie können nichts dafür.«
Dorothea ließ ihn ein und schloß die Haustür, und ich öffnete die Tür von Valentines Wohnzimmer, um guten Tag zu sagen.
Robbie Gill gab mir flüchtig die Hand. »Gut, daß Sie Gesellschaft haben«, meinte er zu Dorothea. »So, und Valentine?«
Alle drei gingen wir leise in das schwach erhellte Zimmer des alten Mannes, und gewichtig folgte uns Paul, der die Szene augenblicklich wieder mit dem Licht der Dek-kenlampe überflutete. Vielleicht war es nur der Regisseur in mir, dachte ich, den diese plumpe Beharrlichkeit störte. Robbie Gill jedenfalls protestierte nicht, sondern machte sich daran, klinisch festzustellen, was jedermann sehen konnte: daß Valentines irdische Hülle von dem, der sie bewohnt hatte, verlassen worden war.
»Um welche Zeit ist er gestorben?« fragte er Dorothea, den Füller über ein Klemmbrett haltend.
»Ich weiß es nicht auf die Minute«, sagte sie unglücklich.
»Gegen eins«, sagte ich.
»Mutter war eingeschlafen«, erklärte Paul vorwurfsvoll. »Sie hat es zugegeben. Sie weiß nicht, wann er gestorben ist.«
Robbie Gill sah ihn ausdruckslos an und schrieb schweigend 01.00 auf das Klemmbrett, das er dann mir und Dorothea zeigte.
»Die Schreibarbeit nehme ich Ihnen ab«, sagte er zu Dorothea. »Aber Sie müssen einen Leichenbestatter rufen.«
»Überlassen Sie das mir«, unterbrach Paul. »Das nehme ich alles in die Hand.«
Niemand machte Einwendungen. Das großspurige Übernehmen kleinerer Angelegenheiten lag genau auf Pauls Linie - und womöglich würde er soviel Erfüllung darin finden, daß er aufhörte, an die Bücher zu denken. Es konnte aber nicht schaden, wenn man Dorothea für alle Fälle den Rücken stärkte.
»Wie wär’s«, schlug ich vor, »wenn ich bei Ihrer Freundin Betty vorbeigehe und frage, ob sie Ihnen Gesellschaft leistet?«
»Gute Idee«, fand Robbie Gill.
»Das ist nicht nötig!« widersprach Paul.
»Es ist ein bißchen früh, Thomas«, gab Dorothea mit einem Blick auf die Uhr zu bedenken, atmete aber dennoch auf.
Ich ging über die Straße zum Haus der Freundin und weckte ihren Mann, dessen anfänglicher Unmut einem ergebenen Achselzucken wich. »Armer alter Kerl«, sagte er und meinte offenbar Valentine. »Wir kümmern uns um Dorothea.«
»Ihr Sohn Paul ist bei ihr«, erklärte ich ihm.
»Betty«, sagte er mit Nachdruck, »wird sofort rübergehen.«
Ich lächelte dem Mann mit dem Stachelkinn, dem zerknitterten Pyjama und dem zerknautschten Morgenmantel zu. Paul, so schien es, hatte eine elektrisierende Wirkung auf die Gutmütigkeit anderer Leute.
Ich wartete, bis Betty, dick und herzensgut wie Dorothea, herbeigeeilt kam und Robbie Gill gegangen war, auch wenn mir Paul derweil ein halbes Dutzend Mal mitteilte, daß ich nicht zu bleiben brauchte. Als er sich gerade einmal gönnerhaft mit dem Arzt abgab, vertraute Dorothea mir schuldbewußt an, daß sie die Tür zu Valentines Wohnzimmer für alle Fälle abgeschlossen und den Schlüssel in der rosa Vase in ihrem Schlafzimmer versteckt habe.
Ich küßte sie lächelnd auf die Wange und fuhr zur Arbeit, kam wieder eine halbe Stunde zu spät, rechtfertigte mich aber auch diesmal nicht.
Das Proben und Lichtsetzen dauerte den ganzen Morgen. Die stummen Rollen - Mitglieder des Jockey Clubs -mußten auf ihre Plätze verteilt und ihre Reaktionen auf Nash Rourkes lange, heftige Verteidigungsrede mußten festgelegt werden.
»Hier sind Sie schockiert«, tippte ich an, »dann ungläubig, dann werfen Sie die Arme hoch, werfen Ihr Schreibzeug hin und schauen böse aus, weil Sie glauben, der Mann ist schuldig und lügt. Alles klar dann, das Ganze noch mal.«
Und noch einmal und noch einmal, während Nashs Double den Text wiederholte und Schritt für Schritt die Gänge absolvierte, bis Moncrieff alle Lampen eingerichtet hatte. Cibber, am Kopf des Tisches, erzählte wie üblich saftige Witze und zog nach der Art alter Charakterdarsteller, die alle Hoffnung auf einen Hamlet begraben haben, gelangweilt über die Regierung her. Cibber - ich nannte die Besetzung größtenteils bei ihren Rollennamen, da ich es weniger verwirrend fand - Cibber also sollte später einen so überzeugenden und schmerzlichen Zusammenbruch hinlegen, daß die Kritik ihn dafür lobte, doch im Moment fuhr er noch im Leerlauf: »Kennen Sie den mit dem Sperma und dem Anwalt, alter Knabe?«
Cibber war vom Besetzungschef wegen seiner gediegenen Erscheinung und seines Oberklassenakzents ausgesucht worden, und daran hatte ich auch nichts auszusetzen, nur daß er oberflächlicherweise annahm, damit sei es schon getan, statt es wie ich als Ausgangsbasis zu betrachten, störte mich.
Wir legten eine kurze Mittagspause ein. Nash Rourke erschien pünktlich zur Maske und machte eine Stellprobe, damit Moncrieff prüfen konnte, ob seine Farbwerte mit denen des Doubles übereinstimmten.
Da Nash am Abend vorher außer der Reihe geprobt hatte, waren die »Jockey-Club-Mitglieder« auf das, was sie sehen würden, nicht vorbereitet, und da ich unbedingt ihre spontanen Reaktionen einfangen wollte, bevor sie mir die einstudierte Version lieferten, erklärte ich, die erste Aufnahme sei diesmal nicht als Probe anzusehen, sondern es gelte ernst; wenn nicht gerade das Set einstürzte, würden wir die Szene komplett abdrehen, ohne uns um vermeintliche Patzer zu kümmern.
»Am Stück«, sagte ich. »In einer Einstellung. Okay?«
Alle nickten, auch wenn man dem einen oder anderen Zweifel anmerkte. Von unwiederholbaren Szenen mit fünfhundert Komparsen abgesehen, waren Erstaufnahmen selten die, die auf der Leinwand gezeigt wurden.
Nash, für den es nichts Neues unter der Sonne gab, verstand, was ich wollte, womit noch nicht gewährleistet war, daß er es auch bringen würde. An diesem Tag konzentrierte er sich jedoch aus eigenem Antrieb ganz auf den ersten Durchlauf und spielte mit so vibrierender Kraft, daß es die hehre Tischrunde in ungespieltes Erstaunen versetzte. Moncrieff sagte, ihm hätten sich die Nackenhaare gesträubt, bei den Mitspielern erst recht. Cibber kauerte sich unwillkürlich auf seinem Platz zusammen, als Nash brüllend stehenblieb und sich über ihn beugte, und als ich nach einem Augenblick völliger Stille etwas atemlos sagte: »Aus - und kopieren«, hatten Aufnahmeteam und Darsteller einhellig applaudiert.
Nash zuckte die Schultern. »Na ja, es ist gut geschrieben.«
Er ging aus dem Hufeisen wieder heraus und kam zu mir.
»Also?« sagte er.
Mir hatte es praktisch die Sprache verschlagen.
»Na los«, meinte Nash. »Sagen Sie’s. Sagen Sie: >Das Ganze noch mal.<«