Wir fuhren um Norwich herum und über das flache Land der Nordsee entgegen, vorbei an den Broads, kamen schließlich durch den noch schlafenden Ort Happisburgh und krochen einen schmalen Feldweg entlang, der in Sanddünen endete.
Moncrieff und Ziggy stiegen steifbeinig aus und fingen an zu zittern. Wo die Wagenscheinwerfer nicht hinreichten, war es noch stockdunkel, und der Küstenwind blies so unbarmherzig wie je.
»Sie sagten, wir sollten uns warm anziehen«, meckerte Moncrieff, während er sich in einen pelzgefütterten Parka hüllte. »Sie haben nicht gesagt, daß wir Eskimo spielen.«
Er zog die pelzgefütterte Kapuze über den Kopf und vergrub die Hände in arktisreifen Handschuhen.
Wir ließen den Fahrer mit seinem Frühstück im Wagen zurück und gingen durch die Dünen auf den offenen Strand zu. Moncrieff trug die Kamera und die Materialbox, ich ging mit dem Thermosbehälter vorneweg, und zwischen uns lief Ziggy mit einem Armvoll Isoliermatten aus Polystyrol, damit wir uns nicht auf die kalte, salzgesättigte Erde zu setzen brauchten.
»Wie haben Sie denn diese gottverlassene Gegend gefunden?« brummelte Moncrieff.
»Ich war als Junge immer hier.«
»Und wenn sie inzwischen ein Kasino hergesetzt hätten?«
»Ich habe nachgesehen.«
Außer Reichweite der Scheinwerfer hielten wir an, um unsere Augen an die Dunkelheit zu gewöhnen, und gingen dann weiter, bis die Dünen ausliefen, der Wind auffrischte und das Geräusch der ruhelosen Wellen zu uns drang, das von zeitloser Verlassenheit kündete.
»Okay«, sagte ich, »sucht euch ein geschütztes Plätzchen.«
Moncrieff stöhnte, nahm Ziggy eine Matte ab und kauerte sich in eine flache Mulde auf der Seeseite der letzten Düne. Ziggy, zäher und schweigsam, fand eine ähnliche Stelle neben ihm.
In der Ukraine geboren, hatte Ziggy von Kindesbeinen an so akrobatische Fähigkeiten zu Pferd gezeigt, daß er mit acht auf die Moskauer Zirkusschule geschickt worden war, und dort, weit weg von seinen ländlichen Wurzeln, hatte er neben fortwährender Übung in seinem Spezialfach eine erstklassige Allgemeinbildung erhalten. Jeder Absolvent der Schule, Jungen wie Mädchen, bekam täglich Ballettunterricht, um die anmutige Bewegung in der Manege zu erlernen. So hätte Ziggy sich jeder Tanztruppe auf Erden anschließen können, doch ihn interessierten ausschließlich Pferde.
Mit zweiundzwanzig hatte Ziggy den Zirkus hinter sich gelassen: Die Zirkusse verschwanden aus den Städten. Als unpolitischer, aber begünstigter Sohn Rußlands war er irgendwie mit seiner Kunst nach Amerika gelangt, und dort hatte ich ihn auch zum erstenmal gesehen, wie er in einer schlechtbesuchten Trainingsstunde bei den Ringling-Brüdern im Madison Square Garden Purzelbäume auf einem kanternden Pferd schlug.
Ich hatte ihm Arbeit in meinem Rodeofilm angeboten und ihn trotz gewerkschaftlicher Einwände an Land gezogen. Seinen unaussprechlichen Nachnamen hatte ich zu Keene verkürzt, und er erwarb sich bald einen so fabelhaften Ruf als Stuntreiter, daß ich ihm seine Zeit mittlerweile abbetteln mußte.
Schlank, leicht und drahtig, bewältigte er die Eiseskälte Norfolks mühelos. Ein Klacks vermutlich, nach der russischen Steppe. Verdrießlichkeit und Lachen wechselten sich bei ihm ab, ein sehr ukrainisches Temperament, und er hatte mir schon oft gesagt, er werde bald in seine Heimat zurückkehren, doch diese Gefahr schwand mit jedem Jahr. Vielleicht gestand er sich selbst ein, daß seine Wurzeln nicht mehr existierten.
Bei einer kurzen Besprechung am Abend vorher hatte ich umrissen, was wir hier wollten.
»Den Sonnenaufgang filmen!« rief Moncrieff leidgeplagt aus. »Dafür brauchen wir doch keine hundert Kilometer zu fahren! Was spricht denn gegen die Heide vor der Haustür?«
»Sie werden sehen.«
»Und die Wettervorhersage?«
»Kalt, klar und windig.«
Seine Einwendungen waren nicht so ernstgemeint. Jeder Kameramann weiß, daß Regisseure bei der Wahl von Drehorten eigen sind und sich ungern dreinreden lassen. Hätte ich die Hänge des K2 verlangt, dann hätte er geflucht und sich die Klettereisen umgeschnallt.
Ich sagte: »Da wir die Frühlingstagundnachtgleiche haben, geht die Sonne genau im Osten auf. Und Osten« - ich schaute auf den kleinen Kompaß, den ich dabeihatte - »ist genau da.«
Ich zeigte hin. »Im Moment schauen wir mit Blick aufs Meer etwas weiter nach Norden. Die Küste verläuft von Nordwest nach Südost, das heißt, Pferde, die bei Sonnenaufgang von links über den Sand galoppieren, bekommen Licht von hinten, haben aber auch die Sonne ein wenig im Gesicht.«
Moncrieff nickte.
»Können Sie das Glitzern der Sonne in ihren Augen einfangen?«
»Groß?«
»Köpfe, Hälse und Mähnen.«
»Thomas«, sagte Ziggy mit der Baßstimme, die bei seinem schmächtigen Körper immer wieder überraschte, »Sie wollen wilde Pferde haben.«
Ich hatte ihn am Abend vorher gebeten, sie sich vorzustellen und zu überlegen, wo wir welche herbekommen könnten. Das Dumme bei plötzlichen Visionen wie dieser war, daß ich in der Vorbereitungsphase von der Szene noch nichts geahnt und daher keine Wildpferde im voraus angefordert hatte. Wildpferde wachsen nicht auf Weidenbäumen.
Zirkuspferde, hatte Ziggy gesagt. Zu gut im Futter, hatte ich eingewandt. Moorponys gingen auch nicht, meinte er: zu langsam und zu dumm. Überlegen Sie, hatte ich ihn gedrängt. Sagen Sie’s mir morgen früh.
»Thomas«, sagte Ziggy, wie immer mit Betonung auf der zweiten Silbe meines Namens, »ich glaube, wir brauchen Fjordpferde - die Pferde der Wikinger.«
Ich starrte ihn an. »Wußten Sie, daß die Küste hier früher regelmäßig von Wikingerschiffen überfallen worden ist?«
»Ja, Thomas.«
Fjordpferde. Ideal. Wo um alles in der Welt kriegte ich die her? Aus Norwegen natürlich. Ganz einfach. Ich fragte ihn: »Haben Sie schon mal mit Norwegerpferden gearbeitet?«
»Nein, Thomas. Aber ich glaube, sie sind nicht völlig wild. Sie werden nicht geritten, aber wohl gehegt.«
»Könnten Sie eins ohne Sattel reiten?« »Natürlich.«
Das Pferd, das sich ihm widersetzte, besagte sein Gesichtsausdruck, müßte erst noch geboren werden.
»Sie könnten es im Nachthemd und mit einer langen blonden Perücke reiten?«
»Natürlich.«
»Barfuß?«
Er nickte.
»Die Frau träumt ja, daß sie ein wildes Pferd reitet. Es soll romantisch, nicht realistisch sein.«
»Thomas, sie wird auf dem Pferd schweben.«
Ich glaubte ihm. Er war einfach Spitze. Auch Moncrieff hörte auf, über unseren Ausflug zu murren.
Wir aßen unsere warmen vakuumverpackten Frühstücksbrötchen mit Speck und tranken dampfenden Kaffee, während der schwarze Himmel langsam grau und heller wurde und weit draußen über dem Meer in ein zartes Purpurrot überging.
Mit jetzt nachtgewohnten Augen sahen wir, wie die Welt Gestalt annahm. Es zeigte sich, daß die unregelmäßigen Höcker der Dünen um uns und hinter uns mit zottigen Sandsegge bewachsen waren, Reihen langer, dürrer Stengel, die im Wind lehnten. Etwas unterhalb von uns war der Sand verweht, die Tide erreichte ihn nicht, und der Wind trug ihn den Dünen zu; und noch weiter unten erstreckte sich festgebackener Sand bis hin zu den fernen, weißgeränderten Wellen.
Die Tide war vermutlich auf dem Tiefststand. Zu tief schon für die optimale dramatische Wirkung. In einer Woche würde die Tide bei Tagesanbruch hoch stehen und den Sand bedecken. Wir mußten zusehen, daß wir die Pferde an einem Tag in der Gezeitenmitte filmten, überlegte ich.
Am besten bei Ebbe, denn eine auflaufende Flut konnte über diesen flachen Sand hinjagen und die Kameras abschneiden. Bis zur nächsten bei Tagesanbruch laufenden Ebbe in der Gezeitenmitte waren es vielleicht noch zehn Tage. Zu früh. Zwei Wochen später dann die nächste Gelegenheit; vierundzwanzig Tage. Möglich.