Ich nickte. Er wog erbärmlich wenig für einen Mann, der einmal stark wie ein Pferd gewesen war. Ich hob die schlafende Gestalt aus dem Sessel, trug sie durch die schmale Diele ins Schlafzimmer und legte sie behutsam auf das weiße Laken, nachdem Dorothea die Bettdecke zurückgeschlagen hatte. Der Atem ihres Bruders ging schnarrend. Ich zog seinen Pyjama glatt und half Dorothea, ihn zuzudecken. Er wurde nicht wach. Er war innerlich gestorben, dachte ich, sobald er sich von seinen Sünden losgesprochen glaubte.
Ich sprach Dorothea nicht nochmals auf einen Priester an und sagte auch dem Arzt nichts davon. Ich war überzeugt, daß sie beide meine Handlungsweise mißbilligt hätten, auch wenn Valentine deshalb jetzt friedlich hinüberging. Laß es, wie es ist, dachte ich. Dorothea braucht nicht noch mehr Kummer.
Ich gab der alten Dame einen Kuß, dem Arzt die Hand, bot unbestimmt, aber bereitwillig meine künftige Hilfe an und fuhr wieder zu meiner Arbeit.
Das Leben, ob wirklich oder imaginär, war laut und rege in Newmarket, wo die Filmgesellschaft, für die ich arbeitete, auf drei Monate einen leeren Rennstall gemietet hatte
- ein gutes Geschäft für den bankrotten Besitzer-Trainer, der nun auf immer den Unterhalt für seine Kinder würde zahlen können.
Obwohl ich eine gute Stunde zu spät zu der für halb sechs angesetzten Drehbuchbesprechung kam, entschuldigte ich mich nicht, denn ich hatte festgestellt, daß meine Mitarbeiter hauptsächlich auf Grund eigener Unsicherheiten jede Äußerung von Bedauern als Schwäche auslegten. Es war ihnen ein Bedürfnis, in mir einen Fels zu sehen, auch wenn mir dieser Fels manchmal nicht fester vorkam als gestampfter Sand.
Sie hatten sich alle im einstigen Eßzimmer des höhlenartigen Hauses des Trainers versammelt (die ganze Einrichtung war unter den Hammer gekommen, nur die halbmatte grüne Tapete mit den goldenen Streifen prangte noch an den Wänden) und saßen auf weißen Plastikstühlen um einen langen Klapptisch herum, der auf den blanken Fußbodenbrettern stand. Die von der Küche gestellten Drinks hatten kaum für die eine Stunde gereicht: Niemand in der Produktion warf Geld für übertriebenen Komfort hinaus.
»Also«, sagte ich und scheuchte Ed von seinem Platz in der Mitte der einen Tischseite weg, um ihn selbst einzunehmen, »haben alle die Änderungen und Ergänzungen gelesen?«
Sie hatten. Es waren drei Charakterdarsteller, ein Kameramann, ein Produktionsleiter, ein Protokollant, ein Regieassistent - Ed - und ein Drehbuchautor, auf den ich gern verzichtet hätte. Er hatte die bewußten Änderungen auf mein begründetes Drängen hin vorgenommen, fühlte sich aber unverstanden. Er glaubte, daß ich der Geschichte eine Wendung geben wollte, die neunzig Grad von seinem Original abwich.
Er hatte recht.
Es war schrecklich einfach, schlechte Rennsportfilme zu drehen, und erfolgreich wurde meiner Ansicht nach nur ein Film, bei dem das Pferderennen die Kulisse für menschliche Dramen abgab. Soweit ich wußte, hatte man mir die Regie hier aus drei Gründen übertragen: Nummer drei war, daß ich bereits zwei Tiergeschichten gewinnbringend auf den Kopf gestellt hatte; Nummer zwei, daß ich mein Handwerk in Hollywood gelernt hatte, wo das Geld für unser Epos herkam; und Nummer eins, daß ich meine Kindheit und Jugend in Rennställen verbracht hatte, man also annehmen durfte, daß ich mit dem Metier vertraut war.
Wir waren seit zehn Tagen in der Produktion, das heißt, wir hatten ein Sechstel des Films oder anders ausgedrückt rund zwanzig Minuten brauchbaren Film pro Tag gedreht
- Meterware, aus der die Endfassung geschnitten werden würde. Insgesamt waren sechzig Drehtage angesetzt, ein Zeitraum von nicht mal zehn Wochen, denn Ruhetage waren knapp und kostbar. Ich als Regisseur entschied, wann letztlich welche Szenen gedreht wurden, hatte aber vorab ein Programm ausgegeben, an das wir uns weitgehend hielten.
»Wie Sie sehen«, sagte ich in die Runde, »ergibt sich aus den Änderungen, daß wir morgen auf dem abgezäunten Vorplatz des Jockey-Club-Hauptbüros in der High Street drehen. Autos, die durchs Tor ein und aus fahren. Da die Polizei uns den Stadtverkehr nur von elf bis zwölf fernhält, müssen wir alle Ankünfte und Abfahrten in die eine Stunde packen. Der Jockey Club erlaubt uns auch, das Rein und Raus an der Eingangstür zu filmen. Die Innenräume sind ja hier im Haus nachgebaut. Ihr drei.«, sagte ich zu den Schauspielern, »... solltet mit Gehässigkeit bei euren Dialogen nicht sparen. George, Sie sind verschlagen. Typ Iago. Sie leiten insgeheim jetzt Cibbers Untergang in die Wege.«
Der Drehbuchautor klagte: »Das sehen Sie falsch. Es paßt mir nicht, was Sie da von mir verlangen. Die beiden sind sehr gute Freunde.«
»Nur bis einer den anderen aus Eigennutz verrät«, sagte ich.
Howard Tyler, der Autor, hatte sich beim Produzenten, bei der Buchhaltung und bei den Bossen der Filmgesellschaft bereits über kleine frühere Änderungen beschwert, ohne damit meine Entlassung zu erreichen. Ich konnte seine Feindseligkeit ebensogut wegstecken wie ich den Unmut hinunterschluckte über seine runde Großmutterbrille, seinen ewig zickigen kleinen Mund und sein Faible für lange, sinnlose Handlungspausen, wo doch nur Action und Bewegung die Kinos füllten. Er liebte gewundene, unausgesprochene Spitzfindigkeiten, die umzusetzen kaum einem Schauspieler gegeben war. Er hätte bei den gefühlsgeladenen Wälzern bleiben sollen, von denen er herkam.
Das Buch, nach dem er das Skript für unseren Film geschrieben hatte, basierte auf einer wahren Begebenheit, einem sechsundzwanzig Jahre alten, erfolgreich vertuschten Rennsportskandal in Newmarket. Howards Romanversion schilderte angeblich die wahren Zusammenhänge, doch das war eher unwahrscheinlich, da keiner der noch lebenden Betroffenen es für nötig gehalten hatte, der Darstellung zu widersprechen.
»Wie Sie sehen, haben Sie alle einen Plan vom Vorplatz des Jockey Clubs«, teilte ich der Versammlung mit. Sie nickten und blätterten in ihren Unterlagen. »Außerdem«, sagte ich, steht auf der Liste, welche Szenen wir drehen und um welche Zeit ungefähr. Die drei beteiligten Wagen werden morgen in aller Frühe zum Vorplatz gefahren. Seien Sie bitte alle zeitig dort, damit Licht und Kamera dem Plan entsprechend gesetzt werden können. Wenn jeder guten Willens ist, dürften wir fertig sein, ehe das Tageslicht grell wird. Irgendwelche Fragen?«
Fragen gab es immer. Eine Frage stellen hieß, man hatte aufgepaßt, und wie so oft waren es die Darsteller mit den kleinsten Rollen, die am meisten fragten. In diesem Fall war es George, der wissen wollte, wie seine Rolle sich aus der eingefügten Szene heraus entwickelt. Nur als einer von vielen Faktoren in Cibbers Nöten, erklärte ich ihm. Cibber werde schließlich durchdrehen. Rot sehen. Peng. Cibber sagte dankbar: »Halleluja.«
George kniff die Lippen zusammen.
»Aber sie waren doch Freunde«, wiederholte Howard stur.
»Wir hatten das ja besprochen«, sagte ich freundlich. »Wenn Cibber durchdreht, ist Ihre Motivierung schlüssiger.«
Er öffnete den kleinen Mund, sah, daß alle anderen nickten, biß sich auf die Lippen und benahm sich fortan, als wäre Cibbers Zusammenbruch seine Idee gewesen.
»Sollte es morgen regnen«, sagte ich, »drehen wir statt dessen die Szenen im Jockey Club und hoffen, daß es am Donnerstag schön wird. Der erste Newmarket-Block soll bis Samstag fertig sein. Am Sonntag wollen wir die Pferde ja zur Rennbahn in Huntingdon schaffen, vierzig Meilen westlich, und sie dort im Stall unterbringen. Darsteller und Techniker kommen Montag früh nach. Montag ab zwölf wird geprobt. Gedreht dann von Dienstag bis Freitag, und am Wochenende geht’s hierher zurück. Ed gibt allen, die es angeht, eine Dispo. Okay? Und die Muster von gestern sind übrigens prima. Das hören Sie doch sicher gern. Es war ein Stück harte Arbeit, aber es hat sich gelohnt.«
Seufzer der Erleichterung gingen um den Tisch. Wir hatten den ganzen Tag auf dem Stallhof zugebracht und menschliches Treiben vor dem Hintergrund des Pferdealltags gefilmt. Noch nie waren wohl Pferde innerhalb von zwölf Stunden so oft ausgemistet, gefüttert, getränkt und gestriegelt worden: aber nun hatten wir genug Aufnahmen im Kasten, um die fiktiven Stallungen endlos mit Leben zu erfüllen. Nach der Drehbuchbesprechung zerstreuten sich alle, bis auf ein langes dünnes Gestell von einem Mann mit struppigem Bart und nachlässiger Kleidung, dessen wenig eindrucksvolle Erscheinung ein auf Granit gebautes künstlerisches Selbstbewußtsein verbarg. Er hob die Augenbrauen. Ich nickte. Er saß krumm auf seinem Platz und wartete, bis alle außer uns durch die Tür verschwunden waren.