»Robbie«, sagte ich entgeistert.
»Ja. Fast die gleiche Stelle wie bei Ihnen. Der Griff stand heraus. Ein normaler Küchenmessergriff, nichts Ausgefallenes. Kein Fury. Also habe ich die Polizei verständigt, und die haben mich den ganzen Tag da im Haus festgehalten, aber ich konnte ihnen nicht sagen, was Paul da gewollt hat. Woher sollte ich das wissen? Ich konnte ihnen gar nichts sagen, außer daß ihm das Messer anscheinend ins Herz gedrungen war und es zum Stillstand gebracht hatte.«
Ich räusperte mich. »Sie haben ihnen nichts von. mir gesagt?«
»Nein. Das hätten Sie doch nicht gewollt, oder?«
»Wirklich nicht.«
»Aber jetzt sieht die Sache anders aus«, meinte er zweifelnd.
»Nicht, wenn die Polizei Pauls Mörder rasch findet.«
»Ich habe nicht den Eindruck, daß sie weiß, wo sie suchen soll. Aber sie wird eine Sonderkommission einrichten. Dann kommen alle möglichen Fragen. Darauf sollten Sie sich besser schon mal vorbereiten, denn Sie waren nach dem Überfall auf Dorothea dort im Haus, und die haben Ihre Fingerabdrücke.«
»Allerdings.«
Ich überlegte ein wenig und fragte: »Ist es gesetzwidrig, wenn man mit einem Messer attackiert wird und es nicht anzeigt?«
»Ich weiß nicht genau«, sagte Robbie, »aber ich weiß, daß es verboten ist, ein Messer wie das Fury in der Öffentlichkeit mit sich herumzutragen, und das hat O’Hara gestern abend, als Sie es mitgenommen haben, getan. Damit könnte er sich eine Geldstrafe und sechs Monate Knast einhandeln.«
»Machen Sie Witze?«
»Nein. Es gibt jetzt strenge Gesetze über das Tragen gefährlicher Waffen, und gefährlicher als Fury geht’s kaum.«
»Vergessen Sie, daß Sie es je gesehen haben.«
»Kinderspiel.«
Wir hatten die Küche am Abend vorher sauber zurückgelassen: Die Schutzwesten, mein Hemd, mein Pullover und Robbies Ärzteabfall waren in einen Müllsack gewandert, den wir am Hals verknotet und mitgenommen hatten, um ihn unauffällig zu einem Haufen ähnlicher Säcke am Bedford Lodge zu stellen, wo täglich Berge von Müll und leeren Flaschen abgeholt wurden.
Robbie sagte abschließend noch einmal, er werde den Schwestern klarmachen, daß es in Ordnung sei, wenn ich Dorothea besuchte, und bat mich, ihn nachher noch mal anzurufen.
Ich versprach es ihm, sagte tschüs und wählte die Nummer von Professor Meredith Derry, der zu meiner Erleichterung an den Apparat geholt wurde und sich bereit erklärte, mir eine halbe Stunde etwas über Messer zu erzählen, insbesondere, wenn ich dafür eine Beratungsgebühr zahlte.
»Selbstverständlich«, schlug ich ein. »Das Doppelte, wenn’s heute abend geht.«
»Kommen Sie, wann Sie wollen«, meinte der Professor und nannte mir seine Anschrift und beschrieb den Weg dahin.
Dorotheas Kummer war so tief und herzzerreißend, wie ich befürchtet hatte. Die Tränen flossen, sobald sie mich sah, schwache, endlose stille Tränen, kein Aufheulen und Schluchzen vor Schmerz, sondern eine heftige Trauer um vergangene Zeiten ebensosehr wie um einen frischen Verlust.
Ich legte eine Weile den Arm um sie und hielt dann einfach ihre Hand, während ich bei ihr saß, bis sie schließlich nach einem auf dem Bett liegenden Papiertuch tastete und sich matt die Nase putzte.
»Thomas.«
»Ja, ich weiß. Es tut mir sehr leid.«
»Er wollte nur mein Bestes. Er war ein guter Sohn.«
»Ja«, sagte ich.
»Ich habe es ihm nicht genug gedankt.«
»Sie brauchen sich nicht schuldig zu fühlen.«
»Tu ich aber. Ich kann nichts dafür. Ich hätte mich gleich nach Valentines Tod von ihm mitnehmen lassen sollen.«
»Nein«, sagte ich. »Hören Sie auf damit, liebe Dorothea. Sie trifft überhaupt keine Schuld. Sie haben sich nichts vorzuwerfen.«
»Aber warum? Warum bringt jemand meinen Paul ums Leben?«
»Die Polizei wird es herausfinden.«
»Wenn ich nur daran denke.«
Die Tränen kamen wieder und hinderten sie am Sprechen.
Ich ging aus dem Zimmer und bat die Schwestern, ihr ein Beruhigungsmittel zu geben. Sie hatte schon eins bekommen. Mehr nur auf ärztliche Anweisung, sagten sie.
»Dann holen Sie einen Arzt«, erwiderte ich gereizt. »Ihr Sohn ist ermordet worden. Sie hat Schuldgefühle.«
»Schuldgefühle? Wieso?«
Das war zu schwer zu erklären. »Bis morgen früh ist sie ernstlich krank, wenn Sie nichts unternehmen.«
Ich ging wieder zu Dorothea und dachte, ich hätte meinen Atem verschwendet, doch zehn Minuten später kam eine der Schwestern munter herein und gab ihr eine Spritze, von der sie fast augenblicklich einschlief.
»Jetzt zufrieden?« fragte mich die Schwester mit einem Anflug von Sarkasmus.
»Könnte nicht besser sein.«
Ich verließ das Krankenhaus und half meinem Fahrer, den Weg zu Professor Derry zu finden. Für Abendarbeit bekam der Fahrer den anderthalbfachen Lohn, und er sagte, es eile ihm überhaupt nicht, mich nach Hause zu bringen.
Professor Derry war im Ruhestand nicht auf Rosen gebettet. Er lebte im Erdgeschoß eines hohen Hauses, das horizontal in Wohnungen aufgeteilt war, und die seine bestand aus Arbeitszimmer, Schlafzimmer, Bad und einer mit einem Wandschirm abgeteilten Kochnische, alles klein und kompakt in braunem Holz, der Rückzugsort einer kargen Gelehrtenexistenz.
Er war weißhaarig, vom Alter gebeugt und gebrechlich, die Augen und der Verstand aber wach und klar. Er winkte mich in sein Arbeitszimmer, ließ mich in einem hölzernen Lehnstuhl Platz nehmen und fragte, was er für mich tun könne.
»Ich wollte eine Auskunft über Messer haben.«
»Ja, ja«, unterbrach er. »Das sagten Sie schon am Telefon.«
Ich schaute mich um, konnte aber in dem Raum kein Telefon entdecken. Draußen in der Diele hatte allerdings eins gestanden - ein Münztelefon, das er mit den Mietern vom ersten Stock teilte.
Ich sagte: »Können Sie mir etwas über ein Messer sagen, wenn ich Ihnen eine Zeichnung davon zeige?«
»Ich kann’s versuchen.«
Ich zog die Zeichnung des Messers von der Heide aus meiner Jackentasche und gab sie ihm. Er faltete das Blatt auseinander, strich es glatt und legte es auf seinem Schreibtisch beiseite.
»Ich muß Ihnen mitteilen«, sagte er unter vielen kleinen, raschen Lippenbewegungen, »daß ich kürzlich schon einmal wegen eines solchen Messers konsultiert worden bin.«
»Sie sind ein anerkannter Fachmann, Sir.«
»Ja.«
Er musterte mein Gesicht. »Wieso fragen Sie nicht, wer mich konsultiert hat? Sind Sie nicht neugierig? Ich mag keine Studenten, die nicht neugierig sind.«
»Es war die Polizei, nehme ich an.«
Die alte Stimme lachte gackernd, mit pfeifendem Atem. »Ich sehe, ich muß umdenken.«
»Nein, Sir. Ich selbst habe das Messer auf der Newmar-keter Heide gefunden. Die Polizei hat es in Verwahrung genommen. Ich wußte nicht, daß sie sich damit an Sie gewandt hat. Die reine, unverfälschte Neugier hat mich hergeführt.«
»Was haben Sie studiert?«
»Ich war nicht auf der Universität.«
»Schade.«
»Danke, Sir.«
»Ich wollte mir einen Kaffee machen. Möchten Sie Kaffee?«
»Ja, gern. Vielen Dank.«
Er nickte eifrig und setzte in seiner Kochnische Wasser auf, gab Instantkaffee in zwei Tassen und fragte, ob ich Milch und Zucker wollte. Ich half ihm, denn das kleine häusliche Zwischenspiel war Zeichen seiner Bereitschaft, sich mitzuteilen.
»Die beiden jungen Polizisten, die hier waren, mochte ich nicht«, sagte er unerwartet. »Sie haben mich mit Opa angeredet. Herablassend.«
»Dumm von ihnen.«