Moncrieff schimpfte unentwegt. Nash konnte sich umdrehen und das Licht jedesmal richtig mit der Stirn einfangen, aber Nash, so erinnerte ich meinen wütenden Kameramann, war nicht umsonst ein Megastar.
In dem Kuddelmuddel half es wenig, daß die echte Polizei eintraf und wissen wollte, wieso meine frischen Fingerabdrücke überall in Dorotheas Haus zu finden waren. Wir hätten darüber lachen können, aber niemand war zu Scherzen aufgelegt. Es stellte sich heraus, daß ich ein Alibi hatte für die Zeit, um die Paul gestorben war (die Beamten konnten oder wollten mir nicht genau sagen, wann), jedenfalls verschlang die Unterbrechung meine Mittagspause.
Wieder an der Arbeit, kamen wir schließlich zu Cibbers (motorisierter) Ankunft auf dem Schauplatz und zu seinen Bemühungen, Nash im Bewußtsein der (fiktiven) Polizei suspekt erscheinen zu lassen. Cibber war ein guter Profi, neigte aber immer noch dazu, unangebrachte Partywitze zu erzählen und Zeit zu verschwenden. »Pardon, pardon«, meinte er nur ohne jede Reue, wenn er sich wieder mal versprach.
Ich übte mich grimmig in Geduld und ging zweimal hinaus auf die Heide, um trotz Rippenweh tief durchzuatmen, während Moncrieffs Leute Material für den achten Durchlauf einer eigentlich simplen Sequenz einlegten. Ich rief in Wrigley’s Werkstatt an und fragte, ob Bill Robinson den Nachmittag frei bekommen könne, und ich sprach mit Bill Robinson selbst, dankte ihm für die zweite Ladung heil abgelieferter Bücher und bat ihn, zu Hause vor seiner Garage ein paar Motorradteile in der Zufahrt aufzubauen.
»Wir haben uns entschlossen, Ihre Szene im Dunkeln zu drehen«, sagte ich. »Hätten Sie heute abend Zeit für uns? Und bringen Sie Ihre große Maschine mit heim?«
Na klar! Natürlich! Aber immer! und Mann! sagte er.
Müde und ein wenig mutlos machte ich um halb sechs Feierabend und lud Nash auf eine Stärkung in meine Suite im Bedford Lodge ein.
»Gern«, meinte er ohne weiteres - und begrüßte Lucy so herzlich, daß sie weiche Knie und einen Knoten in die Zunge bekam.
»Kommen Sie gut voran?« fragte ich sie und erklärte Nash kurz, womit sie beschäftigt war. Sie entschuldigte sich, daß sie langsam sei und erst fünf Kartons geschafft habe. Sie habe gerade entdeckt, daß ein Karton Zeitungsausschnitte über Sonias Tod enthalte; ob das nicht erstaunlich sei. Karton Nummer 6, sagte sie. Sie habe noch keine Zeit gehabt, sie durchzusehen.
»Das macht nichts«, sagte ich. »Kommen Sie morgen wieder, ja? Fahren Sie abends nach Hause? Oder übernachten Sie bei Ridley?«
Sie schnitt ein Gesicht. »Bei dem doch nicht. Nein«, sie wurde sichtlich rot, »ich wohne hier im Hotel. Die hatten ein Zimmer frei, und Pa war einverstanden. Das geht doch hoffentlich in Ordnung?«
»Selbstverständlich«, sagte ich zurückhaltend, da ich wußte, daß jeder Überschwang sie ängstigen würde. »Was ist mit Sonntag - übermorgen?«
»Ich kann bleiben, bis alles erledigt ist«, sagte sie. »Papa findet das auch besser.«
»Guter Papa«, lächelte Nash.
»Das Ganze interessiert ihn schwer«, sagte Lucy und fügte nach einer Pause hinzu: »Es ist wirklich seltsam, Mr. Rourke, mir Sie als meinen Papa vorzustellen.«
Nash lächelte, und seine Augenlider kräuselten sich. Trotz seiner schwangeren Frau sah er keineswegs nach einem Papa aus, schon gar nicht nach Lucys.
Wir tranken etwas zusammen und trennten uns, wobei Nash gähnend sagte, der Sklaventreiber (T. Lyon) wolle ihn in ein paar Stunden schon wieder bei der Arbeit sehen. Lucy ging bei dieser Gelegenheit dann auch gleich. So gab sie mir zu verstehen, daß sie nur aus praktischen Gründen im Hotel wohnte.
Als sie fort war, sah ich mir ihr Gesamtverzeichnis der Bücherkisten an. Da sie auf den Etappen ihrer Reise gehörig durcheinandergebracht worden waren, und da Lucy systematisch vorgegangen war, enthielten die fünf Kartons, die sie katalogisiert hatte, aufs Geratewohl gemischte Bestände.
Kiste 1 Rennberichte, Flachrennen
Kiste 2 Biographien: Trainer, Besitzer und Jockeys
Kiste 3 Rennberichte, Hindernis
Kiste 4 Wöchentliche Kommentare, Racing Gazette
Kiste 5 Bücher, Jahrbücher, Rennsportgeschichte
Mit unbezähmbarer Neugier kniete ich mich auf den Boden, öffnete Kiste 3, die Hindernis-Rennberichte, und sah zu meiner Freude, daß sie die Berichte zweier Jahre enthielt, in denen ich als Jockey aktiv gewesen war.
Die britischen Rennberichte, eine Woche für Woche ergänzte, in weiches Leder gebundene Loseblattsammlung, enthalten genaue Angaben über sämtliche Rennen einer Saison, führen jeden Starter mit Namen, Trainer, Jockey, getragenem Gewicht, Alter und Geschlecht auf und bieten eine kurze Schilderung des Rennverlaufs vom Start bis zum Ziel.
Über die Rennberichte ließ sich nicht streiten. Hieß es in den Rennberichten, daß Mr. T. Lyon (den das »Mr.« als Amateur auswies) weit abgeschlagen als Fünfter geendet hatte, nützte es Mr. T. Lyon gar nichts, wenn er sich zu erinnern meinte, er sei in einem knappen Finish um eine halbe Länge geschlagen worden. Mr. T. Lyon, las ich wehmütig, hatte ein 3-Meilen-Jagdrennen in Newbury mit zwei Längen gewonnen, das Pferd trug 66,2 kg. Der Boden war an dem Tag als »schwer« eingestuft worden, und die Eventualquote betrug 100 zu 6; Mr. T. Lyons Pferd hatte völlig unerwartet den hohen Favoriten besiegt (der, erfolgsgestraft, 10 Kilo mehr tragen mußte). Mr. T. Lyon, ich wußte es noch, war überglücklich. Das Publikum, das zum großen Teil seine Wetten verloren hatte, war weniger begeistert.
Ich lächelte. Hier war ich nun, zwölf Jahre später, eingegossen in Delta-Cast, und hoffte, nicht umgebracht zu werden. Wahrscheinlich würde ich niemals glücklicher sein als an jenem kalten, lang vergangenen Nachmittag.
Valentine hatte meinen Sieg mit einem roten Ausrufezeichen gekennzeichnet, das hieß, er selbst hatte meinem Pferd die speziellen Renneisen aufgeschlagen, vermutlich am Morgen des Wettkampfs.
Zum Rennen treten Pferde mit Aluminiumbeschlägen an, die viel leichter und dünner sind als die Stahlbeschläge, die sie im Stall und im Training brauchen. Der Hufbeschlagschmied wechselt die Eisen regelmäßig vor und nach dem Rennen aus.
Wie es der Zufall wollte, reichten die Rennberichte in Kiste 3 nur bis zu meinem siebzehnten Geburtstag zurück. Um an Mr. T. Lyons Debüt mit sechzehn heranzukommen, würde ich auf Lucy warten müssen.
Ich öffnete Kiste 1, die Flachrennberichte, und stellte fest, daß die Bände hier älter waren. Sie umfaßten die wenigen Jahre, die Jackson Wells in Newmarket trainiert hatte: Ein Band umfaßte das Jahr von Sonias Tod.
Fasziniert hielt ich nach Valentines roten Punkten (Starter) und roten Ausrufezeichen (Sieger) Ausschau und stieß immer wieder auf den Namen meines Großvaters als Trainer. Vor sechsundzwanzig Jahren, ich war gerade vier. Vor einer ganzen Generation. So viele von ihnen waren tot. So viele Pferde, so viele Rennen vorbei und vergessen.
Jackson Wells hatte nicht viele Starter gehabt und, soweit ich sehen konnte, herzlich wenig Sieger. Jackson Wells hatte auch keinen eigenen Jockey gehabt; nur erfolgreiche, gutgehende Ställe konnten es sich leisten, einen Spitzenmann vertraglich zu verpflichten. Mehrere
Wells-Pferde waren von einem P. Falmouth geritten worden, mehrere andere von D. Carsington, und von beiden hatte ich nie gehört, aber das war nicht verwunderlich.
An dem Tag, als seine Frau starb, war Jackson Wells zu einem Meeting nach York gefahren, an dem ein Pferd aus seinem Stall teilnehmen sollte. Ich schaute den Wettkampftag selbst nach und sah, daß sein Pferd dann doch als Nichtstarter aufgeführt war. Trainer Wells war auf dem Rückweg nach Newmarket gewesen, und das Rennen hatte ohne ihn stattgefunden.
Ich blätterte weiter vor. Valentines Punkte für Jackson Wells waren dünn gesät und wurden weniger. Es kam nur noch ein Ausrufezeichen, ein kleines Rennen auf einer kleinen Bahn, gewonnen von dem kleinen Jockey D. Carsington.