Выбрать главу

»Noch nicht.«

»Sie sind ein Schlitzohr, Thomas, wissen Sie das?«

Wir aßen friedlich zu Ende und machten zusammen mit Moncrieff die Auflösungen für die Szenen vom nächsten Tag, die in dem mittlerweile glücklich nachgebauten Athenäum-Speisesaal gedreht werden sollten.

Nach dieser Besprechung riß ich mir erleichtert die beengende Messerabwehr herunter, wusch mich, ohne den Verband zu durchnässen, und entschloß mich, schon in Pyjamashorts, schnell einmal die Zeitungsausschnitte zu Sonias Tod durchzusehen, bevor ich ins Bett kroch: Und zwei Stunden später saß ich, in einen Bademantel gehüllt, immer noch im Sessel, las abwechselnd belustigt und entgeistert und begann zu verstehen, warum Paul unbedingt Valentines Bücher hatte abschleppen wollen, und vielleicht auch, warum Valentine nicht wollte, daß er sie bekam. Indem er sie mir, einem vergleichsweise Fremden, überließ, hatte der alte Mann das in ihnen enthaltene Wissen schützen wollen. Als jemand, der mit den Zeitungsausschnitten nichts anfangen konnte, hätte ich sie ja vielleicht einfach weggeworfen, wie er es selbst hätte tun sollen; aber das hatte er so lange hinausgeschoben, bis die fortschreitende Krankheit es ihm unmöglich machte.

Paul hatte Valentines Bücher und Papiere an sich bringen wollen, und Paul war tot. Ich sah auf den Delta-CastPanzer, der stumm und leer auf dem Tisch stand, und verspürte den starken Drang, ihn wieder anzulegen, auch wenn es zwei Uhr früh war.

Als er mir Sonia beschrieb, hatte Valentine sie eine graue Maus genannt, aber so konnte er sie nicht gesehen haben, als er noch lebte. Die Mappe mit den Zeitungsausschnitten über sie enthielt zwei großformatige Aufnahmen von einer ausgesprochen hübschen jungen Frau, die wenig Sorgen und, wie mir schien, viel sexuelle Erfahrung hatte.

Die eine Aufnahme war ein 20 x 25 cm großer schwarzweißer Glanzabzug des Farbfotos von »Sonia und Pig«, das Lucy mir geliehen hatte. Auf Valentines Abzug fehlte der junge Mann. Sonia lächelte allein.

Das zweite Foto zeigte Sonia im Hochzeitskleid, wieder allein und wieder mit nichts Jungfräulichem um die Augen. Ausgerechnet meine Mutter hatte mir den Unterschied mal erklärt: Habe eine Frau einmal mit einem Mann geschlafen, bekomme sie unter den Augen kleine Hautfältchen, die hervorträten, wenn sie lächle. Sonia lächelte auf beiden Fotos, und die Fältchen waren nicht zu übersehen.

Valentine hatte gesagt, im Buch werde Sonia, >das arme Ludere, soweit er gehört habe, halb als Hure dargestellt, und mit dieser Bemerkung hatte er mich irreführen wollen. Die Mappe enthielt Nachrichten über ihren Tod aus zig Zeitungen, und in den abfälligsten dieser Berichte, in denjenigen, die ganz offen über die eheliche Treue von Mrs. Wells spekulierten, hatte jemand - aber wer, wenn nicht Valentine selbst? - mit einem roten Kuli kreuz und quer herumgestrichen und Nein! Nein! dazugeschrieben, als schmerzte ihn das Gerede.

Ich nahm alles aus der Mappe heraus und sah, daß sie neben den Fotos und dem Stoß Zeitungsausschnitte zwei brüchige getrocknete Rosen enthielt, einen kurzen Brief über einen Hufbeschlag, der mit den Worten »Liebster Valentine« anfing, und ein hauchdünnes cremefarbenes Spitzenhöschen.

Valentine habe zugegeben, daß junge Frauen ihn allzuleicht erregten, hatte Professor Derry gesagt. Nach Valentines eigener Andenkensammlung war Sonia Wells eine dieser jungen Frauen gewesen.

Armer alter Kerl, dachte ich. Er war fast sechzig gewesen, als sie starb. Ich war jung genug, um anzunehmen, mit sechzig sei man über akute sexuelle Obsessionen hinaus: Valentine belehrte mich noch von jenseits des Grabes.

Die emotionsgeladene dicke Sonia-Akte machte mich lange Zeit blind für die dünne Mappe, die darunter, auf dem Boden des Kartons, lag - aber diese Mappe erwies sich, als ich ihren Inhalt sorgfältig durchlas, als reiner Sprengstoff auf der Suche nach einem Zünder.

Auf der Suche nach mir selbst.

Ich schlief fünf Stunden, legte den Panzer an, fuhr wieder zur Arbeit. Samstag morgen. Auf meinem inneren Kalender hakte ich ihn als Tag 19 der Produktion ab, fast am Ende des ersten Drittels der mir zugestandenen Zeit.

Es regnete den ganzen Tag, aber das spielte keine Rolle, da wir die Szene im Speisesaal des Athenäum drehten, in der Cibbers Verdacht, daß seine Frau fremdging, zur unausweichlichen Gewißheit wurde. Cibber und Silva sagten pausenlos »Ja, bitte« und »Nein, danke« zu Kellnerinnen, kauten endlos auf Essen herum - und spuckten es (in Silvas Fall) aus, sobald ich »Aus« sagte; tranken zahllose Schlucke weinfarbenen Wassers, winkten (in

Cibbers Fall) namenlosen Bekannten im Saal zu; führten ein durch und durch gehässiges Gespräch mit starr lächelnden Lippen und lebhaftem Bewußtsein ihrer sozialen Stellung. Ein Jockey-Club-Mitglied wie Cibber ohrfeigte nicht öffentlich im konservativsten Speisesaal Londons seine Frau.

Howard, dachte ich, als ich zuhörte und zusah, hatte sich im Verständnis und in der Wiedergabe der Klassenzwänge und des potentiell gefährlichen Egos eines zurückgewiesenen Mannes selbst übertroffen.

Silva verhöhnte Cibber mit den Augen, ihrem honigsüßen Mund. Sie sagte ihm, sie könne seine Hände auf ihren Brüsten nicht ertragen. Ins Mark getroffen, blickte Cibber sich um, ob die Bedienung auch nichts gehört hatte. Beide Darsteller boten filmisch beste Qualität für ihr Geld.

In der Mittagspause, vor den Nahaufnahmen am Nachmittag, kehrte ich zum Ausspannen ins Bedford Lodge zurück und fand Nash ausgestreckt auf einem Sessel in meiner Suite, im Gespräch mit einer ebenso entspannten Lucy. Sie hatte an diesem Morgen dann auch erst anderthalb Kartons katalogisiert.

»Oh, hallo«, begrüßte sie mich im Knien, »was soll ich denn mit der riesigen alten Enzyklopädie in den drei Kartons hier machen?«

»Wie alt?«

Sie zog einen der dicken Bände hervor uns sah nach. »Vierzig Jahre!«

Ihr Tonfall ließ vierzig Jahre unvorstellbar klingen. Nash zuckte unwillkürlich zusammen.

»Kleben Sie ein Schild drauf und fertig«, sagte ich.

»Gut. Ach ja. ich sollte doch auf Fotoalben achten, und das war bis jetzt Fehlanzeige, aber ich habe einen Haufen

Bilder in einer alten Pralinenschachtel gefunden. Was soll ich damit machen?«

»In einer Pralinenschachtel.?«

»Ja. So mit Blumen auf dem Deckel. Ziemlich alt.«

»Ehm. wo ist die Schachtel?«

Sie öffnete einen Karton, der einmal ein Faxgerät enthalten hatte, und holte mehrere Karteikästen mit alten Rennprogrammen und Zeitungsausschnitten über Sieger, die Valentine regelmäßig beschlagen hatte, daraus hervor. »Hier ist die Pralinenschachtel«, sagte Lucy und reichte mir eine verblaßte und verbeulte goldfarbene Pappschachtel mit dahlienähnlichen Blumen auf dem Deckel. »Die Fotos habe ich nicht aufgelistet. Soll ich?«

»Nein«, sagte ich zerstreut, nahm den Deckel ab und sah lauter kleine Fotos vor mir, viele mit längst verblaßten Farben und eingerollten Ecken. Bilder von Valentine und seiner Frau, Bilder von Dorothea und ihrem Mann, ein Foto von Meredith Deny und seiner Frau und mehrere von Dorothea mit ihrem Kind: mit ihrem hübschen kleinen Paul. Bilder vom guten Leben, das die Zeit noch nicht verdorben hatte.

»Sollen wir uns was zu Mittag bestellen?« sagte ich.

Nash gab die Bestellung durch. »Was möchten Sie trinken, Thomas?«

»Lethe«, sagte ich.

»Erst wenn Sie den Film fertighaben.«

»Was ist denn Lethe?« fragte Lucy.

Nash sagte: »Der Fluß in der Unterwelt, der alle, die von seinem Wasser trinken, einschlafen und ihr Leben vergessen läßt.«

»Oh.«

»Endgültig«, setzte Nash hinzu. »Aber so hat Thomas das nicht gemeint.«

Lucy schrieb eifrig mit dem Filzstift, um zu verbergen, daß sie nicht ganz mitkam.

Auf dem Boden der Pralinenschachtel stieß ich auf einen größeren Abzug in Farbe, auch er nicht gestochen scharf, aber besser erhalten als die anderen. Das Foto zeigte eine Gruppe von jungen Leuten, alle um die Zwanzig. Auf der Rückseite standen nur zwei Wörter - »Die Gang«.