Er nickte. Die Abends-zu-Pferd-Szene hatte von Anfang an im Drehbuch gestanden, und er war darauf vorbereitet.
Wir fuhren im Kamerawagen langsam auf der Straße bergan, neben uns Nash im Sattel (das Pferd im schwachen »Mondlicht«), besorgt und nachdenklich. Dann filmten wir ihn auf dem Boden sitzend, mit dem Rücken an einen windschiefen Baum gelehnt, während das Pferd in der Nähe graste. Wir waren mehr oder minder fertig, als sich die dicken Wolken unverhofft teilten und in dramatischem Flug über den echten Vollmond hinsegelten, und Moncrieff richtete die Kamera mehr als sechzig Sekunden himmelwärts und strahlte mich triumphierend durch seinen Zottelbart an.
Der lange Tag ging zu Ende. Als ich wieder ins Bedford Lodge kam, fand ich drei weitere Kisten katalogisiert vor, dazu eine Notiz von Lucy, ich hätte hoffentlich nichts dagegen, daß ihre Eltern sie doch über Sonntag zu Hause haben wollten. Bin Montag zurück, schrieb sie.
Kiste 8 Rennberichte, Flachrennen
Kiste 9 Hufeisen
Kiste 10 Enzyklopädie, A-F
Die Hufeisen waren tatsächlich Hufeisen, jedes für sich in einer Plastiktüte mit dem Namen des Pferdes, das es getragen hatte, bei welchem Sieg, auf welcher Bahn, an welchem Tag. Valentine war ein echter Sammler gewesen, und er hatte seine Erfolge gut verwahrt.
Ich zog ohne bestimmte Absicht den ersten Band der Enzyklopädie heraus und schlug ihn da auf, wo ein Streifen Papier als Lesezeichen eingelegt war. Autodafe: Ketzerverbrennung, Bücherverbrennung. Historische Beispiele folgten.
Ich klappte das Buch zu, legte den Kopf gegen die Rük-kenlehne meines Sessels, fand, daß es an der Zeit sei, den Delta-Cast abzulegen, und döste halb ein.
Der Gedanke, der mich schlagartig wieder hellwach werden ließ, schien aus dem Nichts zu kommen, rührte aber von einem unbewußt aus dem Augenwinkel wahrgenommenen Wort.
Autodafe.
Weiter unten auf der Seite stand Autoerotik.
Ich nahm den Band aus der Kiste und las den langen Eintrag. Dabei erfuhr ich mehr als genug über verschiedene Formen der Masturbation, fand aber eigentlich nichts von Bedeutung. Irgendwie enttäuscht, wollte ich das Lesezeichen wieder zurücklegen, warf aber einen Blick darauf und behielt es in der Hand. Auf Valentines Lesezeichen stand das Wort »Paraphilie«.
Ich wußte nicht, was Paraphilie war, schaute aber mehrere ungeöffnete Kisten durch, bis ich Band P der Enzyklopädie gefunden hatte, und ging Valentines Hinweis nach.
Auch im Band P lag ein Lesezeichen, diesmal zwischen den Seiten mit dem Stichwort Paraphilie.
Paraphilie, las ich, umfaßte viele Spielarten perverser Liebe. Eine davon war aufgeführt als »erotische Strangulation - die sexuell erregende Unterbrechung der Sauerstoffzufuhr zum Gehirn.«
Valentines Wissen von der Selbsterstickung, dem Vorgang, den er Professor Derry beschrieben hatte, stammte aus diesem Buch.
»1791, zur Zeit Haydns«, las ich, »fand in London ein bekannter Musiker bei der Befriedigung seiner paraphilen Neigungen den Tod. Eines Freitag nachmittags ließ er sich von einer Prostituierten eine Schnur so um den Hals legen, daß er sie nach eigenem Gutdünken straffziehen konnte. Versehentlich ging er dabei zu weit und erdrosselte sich. Die Prostituierte zeigte den Todesfall an und wurde des Mordes angeklagt, jedoch nicht für schuldig befunden, da die Perversion des Musikanten allgemein bekannt war. Der Richter untersagte die Publikation der Prozeßakten im Interesse des öffentlichen Anstandes.«
Man lernt nicht aus, dachte ich nachsichtig und legte die Enzyklopädie in den Karton zurück. Armer alter Professor Derry. Vielleicht war es ganz gut, daß er Valentines Tip nicht in die Tat umgesetzt hatte.
Bevor ich sie beide wegwarf, fiel mein Blick noch einmal auf Valentines zweites Lesezeichen. »Was für Derry« hatte er auf den weißen Papierstreifen geschrieben, und weiter unten »Habe das Piggy gezeigt«.
Ich ging in O’Haras Suite hinüber, nahm die Mappe und das »Gang«-Foto aus dem Safe, sah mir in seinem Sessel sitzend beides an und dachte lange und angestrengt nach.
Schließlich übernachtete ich in seinem Bett, weil das sicherer war.
Kapitel 15
Der Wagen der Filmgesellschaft lieferte Ridley Wells am nächsten Morgen pünktlich und nüchtern am Stall ab. Wir schickten ihn in die Garderobenabteilung im Haus, und ich nutzte die Gelegenheit, Robbie Gill über mein Mobiltelefon anzurufen.
»Noch am Leben?« fragte er aufgeräumt.
»Ja, danke.«
»Und was kann ich für Sie tun?«
Robbie kam immer gleich zur Sache.
»Zunächst mal«, sagte ich, »von wem hatten Sie die Liste der Messerfachleute?«
»Von meinem Kollegen bei der Polizei«, sagte er prompt. »Dem Arzt, den sie hier bei Einsätzen hinzuziehen. Er hat früher Rugby gespielt und mag dreckige Witze, man kann in der Kneipe gut lachen und trinken mit ihm. Ich habe ihn nach Messerexperten gefragt. Er sagte, die Polizei hätte erst kürzlich so eine Liste zusammengestellt und ihn gefragt, ob er sie ergänzen könne. Konnte er nicht. Die Messernarren, die er kennt, sitzen zum großen Teil.«
»Hat er Dorothea behandelt?«
»Nein, da war er nicht im Dienst. Sonst noch was?«
»Wie geht’s ihr?«
»Dorothea? Sie steht noch unter Beruhigungsmitteln. Wollen Sie auch jetzt, wo Paul tot ist, noch für die Privatklinik aufkommen?»
»Ja, und ich möchte sie bald wieder besuchen, wenn es geht, heute nachmittag.«
»Kein Problem. Gehen Sie einfach hin. Sie liegt wegen Paul noch auf einer geschlossenen Station, aber körperlich erholt sie sich gut. Am Dienstag könnten wir sie, glaube ich, verlegen.«
»Gut«, sagte ich.
»Geben Sie auf sich acht.«
»Mach ich«, meinte ich trocken.
Im Stallhof sattelten die Pfleger ihre Pferde für die Morgenarbeit und legten ihnen Zaumzeug an. Da es Sonntag war, würden wir die Heide praktisch wieder für uns allein haben, sagte ich ihnen, aber wir würden nicht genau die gleichen Szenen wie in der Vorwoche drehen.
»Sie sollten heute ja alle genauso angezogen sein wie letzten Sonntag«, sagte ich. »Haben Sie beim Skriptgirl rückgefragt, wenn Sie es nicht mehr genau wußten?«
Einige nickten.
»Prima. Dann kantern Sie jetzt alle den Hang hinauf und halten da an, wo Sie vor acht Tagen stehengeblieben und im Kreis gegangen sind. Okay?«
Wieder Nicken.
»Wissen Sie noch, wie dann der Reiter plötzlich ankam und auf Ivan eingestochen hat?«
Sie lachten. Das würden sie nicht vergessen.
»Schön«, sagte ich, »Ivan ist zwar heute nicht da, aber wir inszenieren den Anschlag noch mal und nehmen ihn mit in den Film hinein. Heute wird das Ganze gespielt. Okay? Zum Einsatz kommt kein echtes Messer, sondern eins aus Holz von unserer Produktionsabteilung. Sie sollen sich genauso verhalten wie vorigen Sonntag - im Kreis gehen, reden, nicht weiter auf den Fremden achten. Klar?«
Sie verstanden ohne Mühe. Unser junger Reitmeister sagte: »Wer springt für Ivan ein?«
»Ich«, sagte ich. »Ich bin zwar um die Schultern nicht so breit wie er oder Nash, aber ich ziehe eine Jacke über, wie sie Nash als der Trainer immer anhat. Ich reite auch das Pferd von Ivan. Wenn die Kameras soweit sind, setzen wir den Mann, der den Messerstecher spielt, auf den langsamen alten Rappen, der in Huntingdon Letzter geworden ist. Der Pfleger, der ihn sonst reitet, steht hinter den Kameras und bleibt aus dem Bild. Noch Fragen?«
Einer sagte: »Verfolgen Sie ihn auch wieder mit dem Wagen ins Tal wie vor acht Tagen?«
»Nein«, sagte ich. »Er galoppiert allein davon. Die Kamera filmt ihn.«
Ich übergab das Kommando sozusagen dem Reitmeister, der das Aufsitzen und den Aufbruch des Lots organisierte. Ed und Moncrieff waren bereits auf der Heide. Ich ging in die Garderobe, um Nashs Jacke anzuziehen, und da auch Ridley fertig war, nahm ich ihn in meinem Wagen mit über die Landstraße zum Rand der Anhöhe. Wir stiegen aus, gingen zu den kreisenden Pferden hinüber und blieben beim Kamerawagen stehen.