Mit einer leichten Luftverdrängung tauchte Toby plötzlich mit einem vollen Krug neben Rod auf. Rod starrte ihn an, während er dankend nach dem Krug griff. „Uh, sag, könnt ihr levitieren und teleportieren?“
„Wie bitte?“ Toby verstand ihn nicht.
„Ich meine, ihr könnt doch fliegen? Und euch von einem zum anderen Ort wünschen?“
„O ja.“ Toby grinste. „Das können wir alle.“
„Was? Fliegen?“
„Nein, uns an einen Ort wünschen, den wir kennen. Alle Jungen können fliegen, aber die Mädchen nicht.“
Sexgebundene Gene, dachte Rod. Laut sagte er. „Deshalb reiten sie auf Besenstielen?“
„Ja, denn sie wiederum können leblose Gegenstände bewegen, was uns nicht gelingt.“
Aha! Wieder eine Bindung! Telekinese war den Y-
Chromosomen vorbehalten, Levitation den X. Aber alle
konnten sie teleportieren und Gedanken lesen. Eine unschätzbare Esperkolonie. Wenn ihr Leben dem der seltenen Telepathen außerhalb dieses Planeten ähnelte… „Deshalb haßt euch das einfache Volk?“
Tobys fröhliches junges Gesicht wurde ernst, ja fast düster. „Ja, und die Edlen ebenfalls. Sie behaupten, wir stünden mit dem Teufel im Bund. Und es gab diese schrecklichen Wasserproben für uns oder den Feuertod, bis unsere gute Königin Catherine an die Macht kam.“ Er drehte sich um und brüllte: „He, Bridget!“ Ein etwa dreizehnjähriges Mädchen löste sich von ihrem Tanzpartner und erschien abrupt an Tobys Seite. „Freund Gallowglass möchte wissen, wie sehr das Volk uns mag.“
Alle Fröhlichkeit schwand aus dem Gesicht des Kindes. Wortlos öffnete sie den Rücken ihrer Bluse, und ein dichtes Kreuzundquermuster häßlicher Narben kam zum Vorschein. Sie drehte sich Rod zu, während Toby ihre Bluse zuknöpfte. „Das alles nur auf einen Verdacht hin“, murmelte sie. „Und ich war erst zehn Jahre alt.“
Rods Mageninhalt stieg ihm bis zum Hals auf, und er hatte seine Mühe, ihn wieder hinunterzuschlucken. Bridget kehrte zu ihrem Partner zurück und tanzte vergnügt weiter.
„Ihr werdet also verstehen, wieviel Grund wir haben, unserer guten Königin dankbar zu sein.“
„Sie machte Schluß mit den Wasserproben und Verbrennungen?“
„Sie änderte das Gesetz, aber es kam auch weiter heimlich zum Tod auf dem Scheiterhaufen. Es blieb ihr also nur ein Weg, uns zu schützen, indem sie jedem von uns, der sich dafür entschied, Zuflucht gewährte.“
Rod nickte bedächtig. „Es mangelt ihr also doch nicht so ganz an Weisheit.“ Sein Blick wanderte zu Bridget zurück, die gerade an der Decke tanzte.
„Was überlegt Ihr, Freund Gallowglass?“
„Sie haßt sie nicht“, brummte Rod. „Sie hat allen Grund, das Volk zu hassen, aber sie tut es nicht!“
Toby schüttelte mit einem gütigen Lächeln den Kopf. „Weder sie, noch irgendeiner von uns. Alle, die sich in den Schutz des Zirkels der Königin begeben, schwören als erstes, nach Gottes Gesetzen zu leben.“
„Ich verstehe“, murmelte Rod langsam. „Ein Zirkel weißer Hexen. Sind alle Hexen auf Gramayre weiß?“
„Leider nicht. Einige sind so verbittert durch größeres Leiden als unseres — den Verlust eines Auges, oder eines Menschen, der ihnen teuer war, oder sonst etwas —, daß sie sich in der Wildnis oder den Bergen verkrochen, um dort Rache an den Menschen zu üben. Doch sind es kaum mehr als zwanzig. Nur drei stehen noch in der Blüte ihres Lebens, alle anderen sind verschrumpelte Männchen und Weibchen.“
„Die Märchenhexen“, knurrte Rod.
„So kann man sie nennen. Und ihre Untaten sind so weitbekannt, daß alles Gute, was wir tun, daneben verblaßt.“
„Also gibt es zwei Arten von Hexen in Gramayre: die alten und bösen in der Wildnis und den Bergen, und die jungen weißen in der Burg der Königin.“
Wieder schüttelte Toby lächelnd den Kopf. „Nein außer uns gibt es noch gut fünf Dutzend andere weiße Hexen, nur trauten sie dem Schutz der Königin nicht. Sie sind zwischen dreißig und vierzig Jahre alt. Alles gute Menschen, aber mißtrauisch.“
Jetzt verstand Rod. „Darum seid ihr alle so jung! Nur die Hexen, die noch den Wagemut hatten, anderen zu vertrauen, nahmen die Einladung der Königin an! Also kam sie zu einer Gruppe Teenager.“
Toby nickte. „Auch unter den anderen gab es zwei, die den Mut hatten, hierherzukommen. Die eine war die weiseste von allen, die mächtigste der Hexen, sie kam aus dem Süden. Aber sie wird jetzt alt! Sie muß bestimmt schon bald dreißig sein!“
Rod verschluckte sich fast an seinem Wein und mußte heftig husten. Als Toby ihn besorgt ansah, erklärte er: „Es ist nichts, Junge, aber wir Alten müssen uns eben mit solchen Hustenanfällen abfinden. Warum blieb diese Hexe denn nicht?“
„Sie sagte, sie spüre unter uns erst ihr Alter. Wenn Ihr im Süden in Schwierigkeiten geraten solltet, so ruft ihren Namen.
Gwendylon heißt sie, und sie wird Euch mehr Hilfe geben, als Ihr braucht.“
„Ich werde mich daran erinnern“, versprach Rod, auch wenn er nicht die Absicht hatte, sich von einer Frau helfen zu lassen.
„Noch eine Frage, weshalb beschützt die Königin euch?“
Toby starrte ihn ungläubig an. „Das wißt Ihr nicht? Nun, sie ist selbst eine Hexe, zwar ungeschult, aber trotzdem hat sie ihre Fähigkeiten.“
Rod hob eine Braue. „Ungeschult?“
„Ja, unsere Gaben brauchen Übung und Schulung, um sich voll entfalten zu können. Catherine ist eine geborene Hexe, aber sie wurde nicht ausgebildet. Sie kann manchmal Gedanken lesen, aber nicht nach Belieben und nicht sehr deutlich.“
„Hm. Was kann sie sonst noch?“
„Nichts, was wir wüßten. Sie kann nur Gedanken hören.“
Rod kratzte sich am Ohr. „Das ist eine recht praktische Gabe für eine Königin. So weiß sie alles, was in ihrer Burg vor sich geht.“
Toby schüttelte den Kopf. „Könnt Ihr, wenn sich fünf unterhalten, alle gleichzeitig hören, Freund Gallowglass? Und ihnen den ganzen Tag lang zuhören? Und sich dann noch an alles erinnern?“
Rod rieb sich das Kinn und runzelte die Stirn.
„Könnt Ihr auch nur ein Gespräch im Gedächtnis behalten?
Nein, nicht einmal das könntet Ihr — und die Königin kann es genausowenig.“
„Sie könnte alles niederschreiben…“
„Ja, aber vergeßt nicht, sie ist ungeschult, und es bedarf großer
Übung, Gedanken in Worte zu kleiden.“
„Halt!“ rief Rod. „Heißt das, daß ihr Gedanken nicht als Worte hört?“
„Nein. Ein flüchtiger Gedanke genügt, ein ganzes Buch mit Worten zu füllen.“
Inzwischen hatte sich eine ganze Gruppe um sie ge schart.
„Es ist komisch, daß ein Zauberer das nicht weiß“, sagte einer, der Martin hieß.
„Ich erwähnte es schon“, verteidigte sich Rod. „Ich bin gar nicht wirklich ein Zauberer. Ihr müßt wissen…“
Schallendes Gelächter unterbrach ihn. Er seufzte und fand sich mit seinem neuen Ruf ab. „Ich nehme an, daß einige unter euch Gedanken als Worte lesen können?“
„O ja.“ Toby wischte sich die Tränen aus den Augen. „Ist Aldis hier?“
Eine hübsche vollbusige Sechzehnjährige bahnte sich einen Weg durch die Menge. „Wen soll ich für Euch belauschen, Sir Gallowglass?“
Rod kam ein Gedanke. „Durer. Den Ratgeber Lord Loguires.“
Aldis setzte sich auf eine Bank und starrte durch Rod hindurch.
Mit hoher Stimme leierte sie: „Wie Ihr wollt, Mylord. Aber ich frage mich, seid Ihr wirklich loyal?“ Ihre Stimme sank um zwei Oktaven, blieb jedoch weiter eintönig. „Bursche, wagst du es, mich von Angesicht zu Angesicht zu beleidigen?“