„Danke dir, Mädchen“, sagte er. „Aber der Weg war lang und ich falle vor Müdigkeit schier um.“ Sollte sie doch von seiner Männlichkeit halten, was sie wollte, solange sie ihn in Ruhe ließ!
Die Magd senkte die Augen und biß sich auf die Lippe.
„Wie Ihr wollt, guter Herr.“ Sie drehte sich um, und Rod starrte ihr nach. Ein bißchen ärgerte er sich darüber, daß sie sich so schnell hatte abweisen lassen — aber hatten ihre Augen nicht eine Spur Triumph verraten, eine merkwürdige Freude? Rod ging weiter. Wie er es erwartet hatte, war die Tür zur Dachkammer geschlossen und eine weibliche Stimme neben Toms zu hören. Er zuckte philosophisch die Schulter und stieg die Wendeltreppe wieder hinunter. Er würde die Zeit nutzen und sich in der Burg umsehen. Sie erweckte den Eindruck, als wäre sie von einem Paranoiker erbaut worden, und er war deshalb überzeugt, daß es Geheimgänge geben mußte. Die Granitwände des Hauptkorridors waren ocker gestrichen und da und dort hingen Wandteppiche von der Decke bis zum Boden. Rod merkte sich wo, denn es war leicht möglich, daß sie Türen zu Nebengängen verbargen. Zwölf offene Seitenkorridore zweigten rechts vom Hauptgang ab. Als er zum siebten kam, hörte er verstohlene Schritte hinter sich. Er blieb stehen und tat, als betrachte er einen Wandteppich. Aus dem Augenwinkel sah er eine ausgemergelte Gestalt sich hastig in einen Nebengang zurückziehen. Es mußte Durer oder einer seiner Artgenossen sein. Mit einem von ihnen auf seinen Fersen konnte er hier jedoch nicht viel erfahren, also mußte er ihn abschütteln, was nicht leicht sein würde, denn Durer kannte die Burg bestimmt gut, er selbst dagegen überhaupt nicht. Der neunte Nebengang erwies sich als genau richtig für seine Zwecke — er war unbeleuchtet. Seltsam, dachte Rod, in allen anderen brannten Fackeln in geringen Abständen. Und hier lag auch Staub ganz dick auf dem Boden, Spinnweben hingen von der Decke, und Wassertropfen sickerten die Wände herab und befeuchteten vereinzelte Moosballen. Aber selbst wenn er Spuren in dem Staub hinterließ, konnte er doch in der Dunkelheit in einen abzweigenden Gang oder Raum schlüpfen. Also bog er zu diesem neunten Nebenkorridor ab, da legte sich eine Klaue auf seine Schulter. Rod wirbelte herum und sah sich Durer gegenüber.
„Was habt Ihr hier zu suchen?“ krächzte das dürre Männlein mißtrauisch.
„Oh, nichts Besonderes, mir ist nur langweilig. Soll ich dir ein Lied singen?“
„Ich habe genug von Eurem Gewimmere! Seht zu, daß Ihr Euch in Eure Kammer zurückzieht, außer Ihr habt hier irgend
etwas Bestimmtes vor.“
Rod kratzte sich die Nase. „Hm“, murmelte er. „Was die Kammer betrifft — mein Begleiter scheint es für andere Zwecke als Schlafen zu benötigen. Also bin ich quasi ausgesperrt, wenn du verstehst, was ich meine.“
„Verderbtheit!“ zischte der Ratgeber.
„O nein, ich nehme an, daß Tom auf sehr natürliche, gesunde Weise vorgeht. Aber jedenfalls bin ich dort momentan nicht erwünscht, und ich dachte nicht, daß jemand etwas dagegen hätte, wenn ich ein bißchen herumspaziere.“
Durer blickte ihn durchdringend wie mit einem La serstrahl an, dann wich er zögernd ein paar Schritte zurück. „Das hat auch niemand“, brummte er. „Es gibt hier keine Geheimnisse, die wir vor Euch verbergen müßten. Aber was Ihr nicht wissen könnt, ist, daß sich hier der Teil befindet, in dem es spukt.“
„Wie interessant! Weißt du, daß ich noch nie einen echten Geist gesehen habe?“
„Das hat auch noch keiner, der am Leben blieb und davon hätte erzählen können. Es wäre Dummheit, diesen Gang zu betreten.“
„Aber eine Begegnung mit einem Geist ließe sich zu einer guten Ballade ausschlachten.“
Der Kleine starrte ihn verächtlich an. „Tut nicht so, als wärt Ihr wirklich ein Minnesänger. Ihr seid ein Spion, nichts weiter!“
Rods Hand tastete nach dem Dolchgriff.
„Ein Spion aus dem Hause Clovis!“ brüllte Durer.
Rod seufzte unhörbar erleichtert auf. „Ob du dich da nicht täuschst, kleiner Mann?“
Durer runzelte die Stirn. „Nicht vom Haus Clovis? Aber dann… Nein, Ihr seid sehr wohl ihr Spion!“
Rod lehnte sich mit verschränkten Armen gegen die Wand.
„Welches Interesse hast du denn am Haus Clovis, teurer Ratgeber? Und weshalb sollte es das Haus Clovis interessieren, was du hier machst?“
„Ihr seid ein Narr, wenn Ihr glaubt, ich würde Euch eine solche Frage beantworten… Ah, daß ich nicht eher daran dachte! Ihr seid ein Spion der Königin!“
Rod trat näher an den Kleinen heran und lockerte den Dolch in der Scheide. Es war ihm egal, ob Durer wußte, daß Catherine ihn geschickt hatte, aber er wollte eine Antwort. „Ich stellte dir eine Frage!“ sagte er sanft.
Furcht sprach aus den Augen des Kleinen. Er sprang zur Wand zurück. „Ich warne Euch, bei meinem Ruf eilen zwei Dutzend Soldaten herbei!“
„Das wird dir nicht mehr viel helfen, wenn du bei ihrer Ankunft schon tot bist“, sagte Rod spöttisch. Er deutete auf den dunklen Korridor.
Grauenerfüllt starrte der Ratgeber ihn an und begann am ganzen Leib zu zittern. Bebend sagte er: „Vielleicht seid Ihr wirklich nicht von Clovis! Und wenn Ihr von der Königin kommt, seid Ihr uns hier willkommen. Ich werde Euch alles sagen, was Ihr zu wissen begehrt!“ In pathetischem Eifer hob er die Hände. Ein seltsames Licht flackerte in seinen Augen.
„Ja, ich werde Euch alles sagen, selbst den Tag, da wir zur Residenz der Königin marschieren. Ihr könnt sie darauf hinweisen, dann kann sie uns entgegenziehen. Alles werde ich Euch sagen, nur bitte, kommt heraus aus diesem Gang!“ Er rang verzweifelt die Hände. „Wenn Euch die Königin geschickt hat, möchte ich nicht, daß Ihr sterbt.“
Rods Gesicht wirkte steinern. „Ich werde mich in dem Gang umsehen. Ich bin überzeugt, daß ihr darin etwas verborgen habt, das wichtiger ist als das Datum eurer Rebellion.“ Er betrat den Korridor.
Durer rannte ihm händeringend ein paar Schritte nach.
„Kommt zurück! Ihr müßt den Norden warnen. Kommt heraus, Ihr Narr!“
Rod kümmerte sich nicht um ihn, sondern stapfte weiter.
Vor Ärger schrillte der Kleine hinter ihm: „So geht denn in
Euren Tod! Wir brauchen Euch nicht! Ich selbst werde das Wort in den Norden tragen. So sterbt als Narr, der Ihr seid!“ Rod bog um eine dunkle Krümmung. Offenbar war Durer von seinem Tod in diesem Teil der Burg überzeugt — es war sehr merkwürdig, daß er trotzdem versucht hatte, ihn am Betreten zu hindern. Das konnte nur bedeuten, er wollte tatsächlich, daß er, Rod, Catherine von der bevorstehenden Rebellion berichtete. Aber weshalb hatte er vor, die Rebellen zu verraten? Zweifellos war hier in diesem Teil etwas verborgen, das Rod nicht finden sollte, da es ihm vielleicht doch gelingen mochte, lebend wieder herauszukommen. Doch daran glaubte er offenbar nicht, was bedeutete, daß Durers großes Geheimnis von automatischen Verteidigungsmechanismen geschützt war… Außer natürlich… Rod hielt abrupt an. Ihm wurde bewußt, daß er den Rückweg gar nicht mehr finden würde. Um zu viele Ecken in alle Richtungen war er während seines Grübelns achtlos gebogen. Seine Stimme zitterte ein wenig, als er murmelte: „Gekab.“