Der Kleine war unheimlich stark und zäh. Immer näher drang die Dolchspitze an Rods Hals. Er spürte bereits die ersten Blutstropfen, als plötzlich ein grauenvolles, ohrenbetäubendes Ächzen den Saal erfüllte, dem gleich Panikschreie folgten. Drei riesige schimmernde, durchscheinende Gestalten schwebten durch die Luft. Knochengesichter waren zu sehen, mit den Mündern zu großen Os gerundet. Horatio und zwei andere ehemalige Loguires amüsierten sich köstlich. Rod brüllte: „Gekab, sechzig Hertz!“ Betäubendes Dröhnen summte in seinen Ohren und sofort schwand seine Furcht. Hastig schaltete er wieder das Hüllenlicht ein und fand Loguire. Rod duckte sich, rammte ihm den Schädel in den Magen, schwang ihn sich über die gute Schulter, und eilte zur Öffnung. „Drückt die Hände an die Ohren, ihr Narren!“ kreischte Durer und folgte Rod, der die Öffnung nicht gleich finden konnte.
Panik griff nach ihm, denn mit Loguire auf der Schulter hatte er gegen den drahtigen Kleinen keine Chance.
Kalte Luft blies gegen seine Wange. „Mir nach!“ donnerte Horatio. Rod gehorchte, und so gelangten sie durch die Öffnung. „Schnell, Mann!“ polterte der Geist. „Der Stein! Ihr müßt ihn schließen!“ Rod nickte keuchend und tastete nach dem Hebel. Knarrend schloß sich die Öffnung. Er setzte den Herzog, der allmählich zu sich kam, auf den Steinboden.
Immer noch keuchend blickte er zu Horatio hoch. „Habt Dank für die Rettung!“ krächzte er.
Horatio winkte ab. „Tot hättet Ihr Euren Eid nicht erfüllen können“, brummte er.
„Wie habt Ihr das eigentlich geschafft, alle Fackeln gleichzeitig zu löschen?“ fragte Rod nach einer Weile.
„Ich dachte, das hättet Ihr getan, Zauberer.“
Rod starrte ihn mit weit offenem Mund an. „Ich dachte, Ihr hättet — und Ihr dachtet, ich hätte… Aber wer war es dann?“
Ein Lichtstrahl drang durch das von Rod geschaffene Guckloch. Horatio heulte furchterfüllt auf und verschwand.
Rod spähte durch das Loch. Durer stand auf der Plattform und stieß mit dem Dolch um sich. „Wo? Wo?“ heulte er.
Rod half Loguire, der noch völlig benommen war, auf die Beine. „Wer — wer war das?“ fragte er, während Rod ihn hinter sich herzog. „Dieser Mann in Weiß?“
Offenbar stand Loguire noch unter Schock. Er mußte ihn also vorsichtig behandeln. „Einer Eurer Verwandten, Mylord. Kommt, wir müssen uns beeilen.“
„Verwandter?“ murmelte Loguire, aber er lief hinter Rod her, bis sie um eine Biegung kamen, dahinter würde es dunkel sein, da das Licht aus dem Guckloch nicht so weit reichte. Doch als sie um die Ecke bogen, schimmerte etwas voraus — eine Gestalt mit einer phosphoreszierenden Lichtkugel in der Hand und zutiefst besorgtem Gesicht.
„Gwendylon!“ rief Rod.
Ihr Gesicht strahlte erleichtert auf.
„Was, zum Teufel, machst du da?“
Unschuldigen Blickes antwortete sie: „Ich folgte Euch, Mylord.“
„Aber, aber… Du mußt mich doch jetzt hassen, so war es schließlich gedacht!“
„Nie, mein Lord“, sagte sie ernst. Rod dachte wieder daran, was Tom über Bauernmädchen gesagt hatte, doch dann betrachtete er das kugelförmige Feuer in ihrer bloßen Hand.
„Was hast du denn da?“
„Oh, nur ein kleiner Zauber, den meine Mutter mich lehrte, als ich noch ein ganz winziges Kind war. Das Licht wird uns helfen, einen Weg durch dieses Labyrinth zu finden.“
Rod starrte sie an. „Und wie hast du die Fackeln im Saal gelöscht?“
„Das ist nicht so einfach zu erklären, Mylord. Haben wir Zeit?“
„Nein. Aber du warst es jedenfalls, hm? Ein weiterer Trick, den deine Mutter dich lehrte?“
Sie nickte, da bemerkte sie seine blutende Schulter. „Ihr seid verwundet, mein Lord!“ rief sie erschrocken. Erst jetzt wurden Rod die Schmerzen wieder bewußt. Er wollte sich an die Wand stützen, doch statt dessen drückte seine Hand auf etwas Weiches, Nachgiebiges, und schon schmiegte sich ein sanfter Körper an ihn. „Gwendylon! Hier ist wirklich nicht der richtige Ort…“
„Mit Euch ist überall der richtige Ort“, flüsterte sie in sein Ohr.
Rod versuchte, sich in die Wand hineinzudrängen. „Horch, Baby, wir haben jetzt nicht die Zeit dazu, doch wenn du uns sicher hier heraus führst, tue ich, was du willst!“
Sie sog die Luft ein. „Wahrhaftig, Lord?“
Rod wich zur Seite, so weit er konnte. „Nun, jedenfalls vierundzwanzig Stunden lang.“
„Das genügt“, versicherte sie ihm mit strahlendem Lächeln, und schon rarinte sie mit dem Licht voraus. Er
blickte ihr eine Sekunde nach, dann schoß er hinter ihr her und riß sie an sich. Erstaunt schaute sie zu ihm hoch. „Mein Lord, wir müssen uns beeilen…“
„Es dauert nicht lange.“ Er zog sie an sich und drückte die Lippen fest auf ihre. Sie seufzte glücklich und schob ihn von sich. „Und wofür war das?“
„Nur eine kleine Kostprobe“, murmelte er und wirbelte herum, als er ein tiefes, freundliches Lachen hinter sich hörte. Loguire war wieder zu Kräften gekommen.
Der Boden unter ihren Füßen wurde immer glitschriger, und Wasser rauschte irgendwo in der Nähe. „Beeilt Euch, meine Lords!“ rief Gwendylon. „Wir müssen fort sein, ehe sie daran denken, die Stallungen zu durchsuchen!“
„Kommen wir denn dort heraus?“ fragte Rod stirnrunzelnd.
„Nein, am Fluß. Aber wenn sie in den Stallungen nachsehen, wird ihnen auffallen, daß Euer Rappe und des Herzogs Brauner durchgegangen sind.“
„Was du nicht sagst! Und wo sind die Pferde?“ Er sprach ein wenig lauter als nötig.
„Am Flußufer“, erklang Gekabs Stimme hinter seinem Ohr.
„Tom ist auch hier.“
Rod unterbrach Gwendylon, als sie ihm antworten wollte. „Ich weiß, ich weiß, am Flußufer. Aber wieso brachte Tom sie…“
„Ich ersuchte ihn darum, Mylord. Mir kam der Gedanke, daß wir sie brauchen würden.“ Kann sie auch in die Zukunft sehen?
Fragte sich Rod. „Vorsicht, meine Lords!“ warnte da das Mädchen und stieg über etwas, das mitten auf dem Gang lag.
Rod blieb stehen und betrachtete es. Es War das Skelett eines winzigen Menschen, doch keines Kindes, den Proportionen nach. Es war mit Moder überzogen, konnte aber trotzdem noch nicht sehr lange hier liegen. „Was ist das?“
fragte er.
„Einer des kleinen Volkes, Lord.“ Ihre Züge verhärteten sich.
„Schwarzer Zauber breitet sich seit einiger Zeit in der Burg
aus.
Rod ignorierte Loguires Stöhnen. „Welche Art von Zauber?“
„Hier war es eine Art Singen — in der Luft! Doch nicht in den Ohren klang es, nur im Kopf. Euch oder mich hätte es nur aufgehalten wie eine Mauer, aber die Kleinen tötete es.“
Ein Kraftfeld! „Wann begann es?“
„Dieser Zauber wurde vor fünf Jahren gewirkt, Mylord, doch hielt er nicht länger als einen Monat an, denn sein Meister achtete nicht darauf, daß ich ihn unwirksam machte, noch errichtete er ihn erneut.“
Rod hielt so abrupt an, daß Loguire gegen ihn prallte. Er starrte auf die grazile, o so weibliche Gestalt, die voraus durch den Gang huschte. Dann schluckte er und folgte ihr wieder. Ein Energieschirm! Vor fünf Jahren! Als Durer auftauchte! Und sie hatte ihn neutralisiert! Mit neuem Respekt betrachtete er das Bauernmädchen. Sie steckte voll Überraschungen!
Das Kugellicht in Gwendylons Hand erlosch und der mit dichtem Grün verhangene Tunnelmund öffnete sich voraus.
Der Fluß rauschte nur wenige Meter entfernt vorbei. Es war kalt hier. Loguire fröstelte.
„Meister!“ Tom trat mit drei Pferden an den Zügeln aus den Schatten des Flußufers. Rod faßte Gwendylons Hand und rannte ihm entgegen. Aber sie hielt ihn energisch zurück.
„Nein, mein Lord! Erst müssen wir nach Eurer Schulter sehen!“