»Schön, daß Sie gekommen sind«, sagte er. »Ich bekomme nicht mehr viel Besuch. Sie wollten mich etwas fragen, haben Sie gesagt.«
»Ja. Ich soll über diesen Krieg berichten«, entgegnete Dana. »Ich habe aber - um die Wahrheit zu sagen - große Schwierigkeiten, ihn zu verstehen.«
»Das hat einen schlichten Grund, meine Liebe. Der Krieg in Bosnien und Herzegowina übersteigt den menschlichen Verstand. Serben, Kroaten, Bosnier und Muslime haben unter Tito jahrzehntelang in Frieden zusammengelebt, waren Freunde, Nachbarn, wuchsen zusammen auf, waren Kollegen, sind in die gleichen Schulen gegangen und haben untereinander geheiratet.« »und nun?«
»Es sind diese Freunde, Nachbarn und Verwandten, die gleichen, die einander jetzt foltern und ermorden und sich in ihrem Haß zu solch widerlichen Handlungen hinreißen lassen, daß ich es nicht in Worte zu fassen vermag.«
»Ein paar solcher Geschichten habe ich gehört«, sagte Dana. Es waren in der Tat unglaubliche Geschichten: von einem Brunnen, der mit menschlichen Hoden aufgefüllt worden war; von vergewaltigten und anschließend abgeschlachteten Babys; von unschuldigen Dorfbewohnern, die in Kirchen eingesperrt worden waren, die dann in Brand gesteckt wurden.
»und wer hat mit alldem angefangen?«
Er schüttelte den Kopf. »Das kommt ganz drauf an, wen sie fragen. Im Zweiten Weltkrieg wurden die Serben, die an der Seite der Alliierten kämpften, zu Hundertausenden von den Kroaten umgebracht, die auf der Seite der Nazis standen. Jetzt nehmen die Serben mit der Geiselnahme des ganzen Landes und einem erbarmungslosen Vorgehen dafür blutige Rache. Allein Sarajevo ist mit über zweihunderttausend Granaten beschossen worden. Es gibt mindestens zehntausend Tote und über sechzigtausend Verwundete. Die Bosnier und die Muslime tragen selbst ein Gutteil der Verantwortung für das Foltern und Morden. Doch den Menschen, die den Krieg nicht wollen, wird er aufgezwungen. Keiner kann dem andern mehr trauen, nur Haß ist geblieben. Was wir jetzt haben, ist ein Brand, der sich selber nährt, und die Leichen der unschuldigen schüren das Feuer.«
Als Dana nachmittags zum Hotel zurückkehrte, wurde sie bereits von Benn Albertson erwartet, der darauf brannte, ihr eine Mitteilung weiterzugeben, die er inzwischen erhalten hatte: daß ihnen am nächsten Tag um achtzehn uhr ein Sendewagen und eine halbe Stunde zur Benutzung des Satelliten zur Verfügung stehen würden.
»und ich habe einen idealen Drehort für uns gefunden«, erklärte Wally Newman. »Es gibt hier in Sarajevo einen Platz, an dem eine katholische Kirche, eine Synagoge und eine protestantische Kirche stehen. Sie liegen nur eine Straßenlänge voneinander entfernt. Alle drei sind ausgebombt worden, Dana, Sie könnten einen Bericht über den Haß senden, der keine unterschiede kennt und alles gleichermaßen zerstört. Daran könnten Sie veranschaulichen, was der Haß den Einwohnern getan hat, die nichts mit dem Krieg zu tun haben und doch von ihm getroffen werden.«
Dana nickte. »Großartig. Wir treffen uns beim Abendessen wieder. Jetzt muß ich mich an die Arbeit machen.« Und sie verschwand auf ihr Zimmer.
Am nächsten Tag trafen Dana, Wally und Benn sich um achtzehn uhr an dem Platz mit den zwei Kirchen und der Synagoge. Wally hatte seine Kamera auf einem Stativ positioniert; Benn wartete auf Bestätigung aus Washington, daß das Signal für die Satellitenübertragung gekommen war. Aus unmittelbarer Nähe waren die Schüsse der Heckenschützen zu hören. Es gibt keinen Grund zur Angst, redete Dana sich ein. Sie schießen ja nicht auf uns. Sie schießen nur aufeinander. Sie brauchen uns doch, damit die Welt ihre Geschichte erfährt.
Dana sah Wally winken. Sie atmete einmal durch, schaute ins Kameraobjektiv und begann zu sprechen.
»Die völlig ausgebombten Kirchen, die Sie hinter mir sehen, symbolisieren, was in diesem Land vor sich geht. Hier gibt es keine Mauern mehr, hinter denen die Menschen sich verstekken können, keinen Ort, wo sie Schutz finden. In früheren Epochen haben die Menschen in ihren Kirchen Zuflucht gefunden. Hier aber sind Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft ineinander übergegangen und ...«
In eben diesem Moment hörte sie ein schrilles Pfeifen. Sie hob den Kopf und sah Wallys explodierenden Kopf - wie eine rote, aufplatzende Melone. Das ist eine lichtbedingte Täuschung, dachte Dana, mußte dann jedoch beobachten, wie Wallys Körper zusammensackte und auf den Bürgersteig fiel. Sie war entsetzt, versteinerte, verlor die Fassung. Ringsum erhob sich Geschrei.
Das Stakkato des Schnellfeuers eines Heckenschützen kam immer näher. Dana verlor die Beherrschung über ihren Körper; sie wurde von einem hemmungslosen Zittern ergriffen, von mehreren Händen gepackt und rasch ans Ende der Straße gebracht. Sie wehrte sich, wollte sich losreißen.
Nein! Wir müssen uns wieder an die Arbeit machen. Wir haben unsere zehn Minuten Sendezeit noch nicht ausgefüllt. Du darfst nicht verschwenden. Nicht Wally ... es ist nicht recht, Zeit zu verschwenden. »Iß deine Suppe auf, Liebling. In China müssen die Kinder hungern.« Du glaubst wohl, daß du ein Gott bist, du da oben, der du auf einer weißen Wolke thronst? Da will ich dir mal was sagen: Ein Schwindler bist du. Ein wahrer Gott hätte es nie zugelassen, daß Wally der Kopf abgeschossen wurde. Wally hat darauf gewartet, zum erstenmal Großvater zu werden, ein Enkelkind zu bekommen. Hörst du mir zu? Hörst du? Hörst du?
Sie stand unter Schock. Ihr war überhaupt nicht bewußt, daß sie durch eine Seitenstraße zum Wagen abgeführt wurde.
Als Dana die Augen öffnete, lag sie in ihrem Bett im Hotelzimmer, und Benn Albertson und Jean Paul Huber beugten sich über sie.
Dana schaute in ihre Gesichter: »Es ist wahr, ja?« Und kniff die Augen ganz fest wieder zu.
»Es tut mir so leid«, sagte Jean Paul. »Es ist furchtbar, so etwas mitzuerleben. Sie haben wirklich Glück gehabt, daß Sie nicht auch tot sind.«
Die Stille im Raum wurde durch das Läuten des Telefons erschüttert. Benn nahm den Hörer ab. »Hallo.« Er lauschte kurz. »Jawohl, Holden.« Er wandte sich an Dana. »Es ist Matt Baker. Sind Sie in der Lage, mit ihm zu sprechen?«
»Ja.« Dana setzte sich im Bett auf, wartete einen Augenblick und ging dann zum Telefon hinüber. »Hallo.« Ihre Kehle war trocken. Das Reden fiel ihr schwer.
Matts Stimme dröhnte in ihr Ohr. »Ich möchte, daß Sie nach Hause kommen, Dana.«
Ihre Stimme war ein Flüstern. »Ja. Ich möchte heim.«
»Ich werde dafür sorgen, daß Sie in der ersten Maschine, die Sarajevo verläßt, einen Platz bekommen.«
»Danke.« Der Hörer fiel ihr aus der Hand.
Jean Paul und Benn halfen ihr wieder zurück ins Bett.
»Entschuldigung«, sagte Jean Paul erneut. »Mann . da fehlen einem die Worte.«
Ihr liefen Tränen über die Wangen. »Warum haben sie Wally getötet? Er hat nie einem Menschen ein Leid getan. Was geht hier vor? Hier werden Menschen geschlachtet wie Tiere, und es kümmert keinen. Es kümmert niemand!«
»Dana«, sagte Benn, »es gibt nichts, was wir dagegen unternehmen könnten .«
»Aber es muß doch eine Möglichkeit geben, etwas dagegen zu tun!« Danas Stimme bebte vor Zorn. »Es ist unsere Aufgabe, dafür zu sorgen, daß die Menschen in der Welt Anteil nehmen. Es geht doch in diesem Krieg nicht um zerbombte Kirchen, Gebäude oder Straßen. Es geht um das Leben unschuldiger Menschen, darum, daß ihnen der Kopf vom Leib geschossen wird. Darüber müssen wir berichten. Es ist die einzige Möglichkeit, damit die Welt begreift, daß hier wirklich Krieg herrscht.« Sie drehte sich zu Benn um, holte tief Luft und erklärte: »Ich bleibe, Benn. Ich lasse mich nicht von hier verjagen.«
Benn musterte sie besorgt. »Dana, sind Sie sicher, daß ...?«
»Absolut sicher. Ich weiß jetzt, was ich zu tun habe. Würden Sie bitte Matt anrufen und es ihm mitteilen?«