Die rote Kontrollampe auf der Kamera erlosch. »Lassen Sie uns schnell von hier verschwinden«, sagte Benn.
Der neue Kameramann Andy Casarez begann, in Windeseile seine Geräte einzupacken.
Auf dem Bürgersteig stand ein kleiner Junge und schaute Dana an - ein Straßenkind in schmutziger, zerlumpter Kleidung und mit kaputten Schuhen. In dem verdreckten Gesicht leuchteten ernste braune Augen. Er hatte keinen rechten Arm mehr.
Dana sah, wie der Junge sie beobachtete. Sie lächelte ihm zu. »Hallo.«
Er gab keine Antwort. Dana zuckte die Schultern und drehte sich um zu Benn.
»Gehen wir.«
Wenige Minuten später waren sie unterwegs zum Holiday Inn.
Das Hotel Holiday Inn war mit Zeitungs-, Rundfunk- und Fernsehberichterstattern belegt, die eine merkwürdige Art von Familiengemeinschaft bildeten. Im Grunde waren sie Konkurrenten und Rivalen; doch wegen der lebensgefährlichen Umstände, in denen sie hier zu arbeiten hatten, waren sie stets bereit, einander zu helfen und aktuelle Nachrichten auszutauschen.
In Montenegro hat es einen Aufstand gegeben .
Vukovar ist bombardiert worden .
In Petrovo Selo wurde ein Krankenhaus beschossen ...
John Paul Hubert war nicht mehr da. Er hatte eine andere Aufgabe bekommen. Dana vermißte ihn sehr.
Eines Morgens stand der kleine Junge, den Dana während der Dreharbeiten auf der Straße bemerkt hatte, in der Zufahrt des Hinterausgangs, als sie das Hotel verließ.
Jovan öffnete Dana die Tür des neuen Landrover. »Guten Morgen, Madam.«
»Guten Morgen.« Der Junge starrte Dana unentwegt an. Sie ging zu ihm hinüber. »Guten Morgen.«
Keine Antwort. »Wie sagt man >guten Morgen< auf slowenisch?« wollte Dana von Jovan wissen.
Es war der kleine Junge, der antwortete: »Dobro jutro.«
Dana drehte sich ihm überrascht zu. »Du verstehst Englisch?«
»Kann sein.«
»Wie heißt du.«
»Kemal.«
»Wie alt bist du, Kemal?«
Er drehte sich um und ging davon.
»Er fürchtet sich vor Fremden«, sagte Jovan.
Dana sah dem Jungen nach. »Das kann ich verstehen. Mir geht's nicht anders.«
Als der Landrover vier Stunden später in die hintere Zufahrt des Holiday Inn zurückkam, sah Dana Kemal in der Nähe des Eingangs warten.
»Zwölf«, sagte er, als sie aus dem Wagen stieg.
»Wie bitte?« Aber dann erinnerte sie sich. »Ach so.« Er war klein für sein Alter. Sie blickte auf seinen leeren rechten Hemdsärmel und wollte ihm schon eine Frage stellen, überlegte es sich dann jedoch anders. »Wo wohnst du, Kemal? Können wir dich nach Hause fahren?« Er machte auf dem Absatz kehrt und ging weg.
»Er hat keine Manieren«, bemerkte Jovan.
»Vielleicht hat er sie verloren, als er den Arm verlor«, meinte Dana leise.
Am Abend dieses Tages unterhielten sich die Auslandskorrespondenten im Speisesaal des Hotels über die neuen Friedensgerüchte. »Die UNO hat sich endlich eingeschaltet«, erklärte Gabriella Orsi.
»Höchste Zeit.«
»Wenn Sie mich fragen, ist es dafür schon zu spät.«
»Es ist nie zu spät«, widersprach Dana ruhig.
Am nächsten Morgen kamen zwei Meldungen herein. Die erste Nachricht betraf ein Friedensabkommen, das von den Vereinigten Staaten und den Vereinten Nationen vermittelt worden war. Die zweite Nachricht lautete, daß die Zeitung von Sarajevo, Oslobodjenje, nicht mehr existierte - das Redaktionsgebäude war total zerbombt worden.
»Über das Friedensabkommen werden unsere Kollegen in Washington berichten«, sagte Dana zu Benn. »Kommen Sie -wir liefern einen Bericht über Oslobodjenje.«
Dana stand vor dem zerstörten Gebäude, das zuvor der Sitz von Oslobodjenje gewesen war. Die rote Kontrollampe der Kamera leuchtete auf.
»Hier sterben täglich Menschen«, sagte Dana mit Blick ins Objektiv, »und werden täglich Gebäude vernichtet. Doch in diesem Fall hier, bei diesem Gebäude, handelt es sich um Mord. Es beherbergte Oslobodjenje, die einzige unabhängige Zeitung Sarajevos. Es war eine Zeitung, die den Mut besaß, die Wahrheit zu sagen. Als sie aus ihren Büroräumen gebombt wurde, ist sie in die Kellerräume gezogen, um weiterarbeiten zu können. Als es keine Zeitungskioske mehr gab, wo Zeitungen hätten verkauft werden können, sind die Redakteure auf die Straßen gegangen, um ihre Zeitung selbst an den Mann zu bringen. Sie haben etwas verkauft, was mehr war als eine Zeitung. Sie haben den Menschen Freiheit verkauft. Mit dem Tod von Oslobodjenje ist hier ein weiteres Stück Freiheit gestorben.«
Matt Baker sah die Nachrichtensendung in seinem Büro. »Verdammt, sie ist wirklich gut!« Er wandte sich an seinen Assistenten. »Sie muß einen eigenen Satellitenwagen haben. Sorgen Sie dafür.«
»Jawohl, Sir.«
Als Dana auf ihr Zimmer zurückkehrte, wurde sie dort erwartet. Oberst Gordan Divjak lümmelte in einem Sessel.
Sie blieb unangenehm überrascht stehen. »Man hat mir nicht mitgeteilt, daß ich Besuch habe.«
»Es handelt sich nicht um einen Privatbesuch.« Er fixierte sie mit seinen kleinen schwarzen Augen. »Ich habe Ihre Sendung über Oslobodjenje gesehen.«
Dana musterte ihn mißtrauisch. »Ach ja?«
»Sie hatten die Einreiseerlaubnis bekommen, um über unser Land zu berichten, nicht aber, um moralische Werturteile zu fällen.«
»Ich habe aber keine .«
»Unterbrechen Sie mich nicht. Ihre Vorstellung von Freiheit muß nicht unbedingt unserer Vorstellung von Freiheit entsprechen. Verstehen Sie mich?«
»Nein. Ich fürchte, ich .«
»Dann gestatten Sie, daß ich es Ihnen erkläre, Miss Evans. Sie sind Gast in meinem Land. Vielleicht arbeiten Sie aber als Spionin Ihrer Regierung.«
»Ich bin keine Spi-«
»Sie sollen mich nicht unterbrechen. Ich habe Sie bei Ihrer Ankunft auf dem Flughafen gewarnt. Wir spielen hier keine Kinderspiele. Wir befinden uns hier mitten im Krieg. Jede Person, die in Spionagetätigkeit verwickelt ist, wird hingerichtet.« Seine Drohung hatte eine ganz besondere Wirkung, da sie ruhig und leise ausgesprochen wurde.
Er stand auf. »Ich warne Sie hiermit zum letzten Mal.«
Dana schaute ihm nach, als er das Zimmer verließ. Ich werde mich von ihm nicht einschüchtern lassen, ich lasse mir keine Angst einjagen, redete sie sich trotzig ein.
Aber sie hatte Angst.
Für Dana traf ein Carepaket ein, von Matt Baker: ein Karton mit Süßigkeiten, Granola-Riegeln, Dosennahrung und einem
Dutzend anderer, unverderblicher Waren. Dana trug ihn hinunter zur Hotellobby, um mit den Kolleginnen und Kollegen zu teilen. Sie waren entzückt.
»Also, das nenn ich mir einen Chef«, meinte Satomi Asaka.
»Wie kann ich eine Anstellung bei der Washington Tribune bekommen?« scherzte Juan Santos.
Kemal wartete wieder in der hinteren Zufahrt. Die ausgefranste dünne Jacke, die er trug, sah ganz so aus, als ob sie im nächsten Moment auseinanderfallen würde.
»Guten Morgen, Kemal.«
Er schaute sie durch halbgeschlossene Lider schweigend an.
»Ich gehe einkaufen. Kommst du mit?«
Keine Antwort.
»Dann wollen wir's mal mit der anderen Tour versuchen«, sagte sie verärgert und riß die hintere Tür des Wagens auf. »Rein mit dir ins Auto! Los!«
Einen Augenblick lang stand der Junge völlig regungslos da. Er wirkte verschreckt. Dann setzte er sich langsam in Bewegung.