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Dana und Jovan schauten zu, wie er auf den Rücksitz kletterte.

»Könnten Sie für uns ein Kaufhaus oder ein Kleidergeschäft finden, das geöffnet hat?«

»Ich weiß eines.«

»Fahren wir hin.«

Während der ersten Fahrtminuten herrschte Schweigen im Wagen.

»Hast du eine Mutter oder einen Vater, Kemal?«

Er schüttelte den Kopf.

»Wo wohnst du?«

Er zuckte die Achseln.

Dana spürte, wie er näher an sie heranrückte, so als ob er ihre Körperwärme in sich aufnehmen wollte.

Das Bekleidungshaus befand sich in der Bascarsija, dem alten Markt von Sarajevo. Die Fassade war durch Bomben zerstört, das Geschäft aber geöffnet. Dana nahm Kemal an der linken Hand und führte ihn hinein.

Ein Verkäufer trat auf sie zu. »Kann ich Ihnen behilflich sein?«

»Ich brauche eine Jacke für einen Freund.« Sie sah Kemal an. »Er hat etwa die Größe dieses Jungen.«

»Folgen Sie mir bitte.«

In der Abteilung für Knabenkleidung gab es einen ganzen Ständer mit Jacken. »Welche hättest du denn gern?« wollte Dana von Kemal wissen.

Kemal stand da und sagte kein Wort.

»Wir nehmen die braune«, sagte Dana zum Verkäufer und musterte Kemals Hose. »Und ich denke, daß wir auch noch eine Hose und ein Paar neue Schuhe brauchen.«

Als sie das Geschäft eine Stunde später verließen, war Kemal völlig neu eingekleidet. Er kroch wortlos auf den Rücksitz des Wagens.

»Kannst du nicht Dankeschön sagen?« fragte Jovan verärgert.

Kemal brach in Tränen aus. Dana nahm ihn in die Arme.

Was ist das für eine Welt, die Kinder auf solche Weise mißhandelt?

Nach der Ankunft im Hotel marschierte Kemal schweigend davon.

»Wo wohnen solche Jungen?« erkundigte Dana sich bei Jo-van.

»Auf der Straße, Madam. Waisenkinder wie ihn gibt's in Sarajevo zu Hunderten. Sie haben kein Zuhause, keine Verwandten ...«

»Und wie schaffen sie es, zu überleben?«

Er zuckte die Achseln. »Das weiß ich auch nicht.«

Die Gespräche am Mittagstisch drehten sich hauptsächlich

um das neue Friedensabkommen und die Frage, ob es halten würde. Dana beschloß, erneut Professor Mladic Staka aufzusuchen und ihn nach seiner Meinung zu befragen.

Er schien noch gebrechlicher als beim ersten Besuch.

»Ich freue mich, Sie zu sehen, Miss Evans. Wie ich höre, sind Ihre Sendungen wunderbar, nur -« Er zuckte die Schultern. »Ich habe zwar einen Fernseher, doch leider keinen Strom. Was kann ich für Sie tun?«

»Ich würde gern Ihre Meinung über das neue Friedensabkommen erfahren, Professor.«

Er lehnte sich im Sessel zurück und sagte nachdenklich: »Ich finde es aufschlußreich, daß man sich im fernen Dayton, Ohio, zu einer Entscheidung über die Zukunft von Sarajevo zusammengefunden hat.«

»Man ist übereingekommen, daß die Präsidentschaft des Landes aus einer Troika - einem Muslim, einem Kroaten und einem Serben - bestehen soll. Halten Sie das für realistisch, Professor?«

»Nur, wenn man an Wunder glaubt.« Er runzelte die Stirn. »Da wird es achtzehn nationale gesetzgebende Organe und außerdem hundertneunzehn separate Ortsregierungen geben. Das Ganze ist ein politischer Turmbau zu Babel. Eine durch Waffendrohung erzwungene Ehe, um einen amerikanischen Ausdruck zu verwenden. Keine dieser Körperschaften und Regierungen ist bereit, die eigene Autonomie aufzugeben. Alle bestehen sie auf eigenen Flaggen, eigenen Kfz-Nummernschildern, einer eigenen Währung . « Er schüttelte ratlos den Kopf. »Das ist ein Morgenfriede. Hüte dich vor dem Abend.«

Inzwischen war Dana Evans viel mehr als eine gewöhnliche Auslandskorrespondentin; sie hatte sich zu einer internationalen Medienlegende entwickelt. Was in ihren Fernsehsendungen Ausdruck fand, war ein kluger, leidenschaftlich engagierter Mensch. Und weil Dana persönliche Anteilnahme zeigte, weckte sie auch bei ihren Zuschauern Anteilnahme; sie akzeptierten Danas Reaktionen und Empfindungen.

Matt Baker bekam Anrufe von anderen Nachrichtenprogrammen, die die Sendungen von Dana Evans übernehmen wollten, und er freute sich für sie. Sie war ausgezogen, um dort Gutes zu tun, dachte er, und nun tut es ihr am Ende sogar selbst gut.

Mit dem eigenen Sendewagen war Dana noch viel beschäftigter als zuvor. Sie war nicht länger auf Gedeih und Verderb der jugoslawischen Satellitengesellschaft ausgeliefert. Sie traf, zusammen mit Benn, die Entscheidungen, welche Ereignisse und Themen behandelt werden sollten; anschließend schrieb sie die Begleittexte und sendete sie. Manche Berichte wurden live gesendet, andere auf Band aufgenommen. Zum Drehen der benötigten Hintergrundszenen schwärmten Dana, Benn und Andy durch die Straßen der Stadt; die Kommentare sprach Dana hinterher in einem Schneideraum auf Band und schickte sie dann über die Leitung nach Washington.

Zur Mittagszeit wurden im Speisesaal des Hotels große Platten mit Sandwiches aufgetragen. Die Journalisten bedienten sich. Der BBC-Berichterstatter Roderick Munn kam mit einem Text der Nachrichtenagentur Associated Press in der Hand in den Raum.

»Alle mal herhören.« Er begann die AP-Meldung laut vorzulesen. »>Die WTE-Auslandskorrespondentin Dana Evans, deren Beiträge seit neuestem von einem Dutzend Nachrichtensender übernommen werden, ist soeben für den begehrten Peabody Award nominiert worden.. .<«

»Welch ein Glück für uns, mit einer so berühmten Kollegin zu verkehren!« bemerkte ein Korrespondent sarkastisch.

Und in eben diesem Moment betrat Dana den Speisesaal. »Hallo allerseits. Ich habe heute keine Zeit zum Mittagessen. Ich nehme ein paar Sandwiches für unterwegs mit.« Sie packte einige Brote in Papierservietten ein. »Bis später.« Die Blicke

der sprachlosen Kollegen folgten ihr, als sie den Raum verließ.

Draußen vor dem Hotel wartete Kemal.

»Guten Tag, Kemal.«

Keine Antwort.

»Steig ein.«

Kemal rutschte auf den Rücksitz. Dana gab ihm ein Sandwich und schaute ihm schweigend zu, als er es hinunterschlang. Sie gab ihm ein zweites Sandwich, über das er sich ebenfalls sofort hermachte.

»Langsam essen«, ermahnte ihn Dana.

»Wohin?« fragte Jovan.

Dana gab die Frage an Kemal weiter: »Wohin?« Kemal schaute sie nur verständnislos an. »Wir fahren dich nach Hause. Wo wohnst du?«

Er schüttelte den Kopf.

»Ich muß es wissen. Wo lebst du?«

Zwanzig Minuten später hielt der Wagen vor einem großen, leerstehenden Grundstück nicht weit vom Ufer der Miljacka entfernt, wo eine Menge großer Kartons verstreut lagen -neben Abfällen jeder Art, die das Grundstück bedeckten.

Dana stieg aus und wandte sich zu Kemal um. »Hier wohnst du?«

Er nickte widerstrebend.

»Und hier wohnen außer dir noch andere Jungen?«

Er nickte erneut.

»Ich möchte darüber eine Sendung im Fernsehen machen, Kemal.«

Wieder Kopfschütteln. »Nein.«

»Und warum nicht?«

»Weil sonst die Polizei kommt und uns mitnimmt. Tun Sie es bitte nicht.«

Dana musterte ihn kurz. »In Ordnung. Ich gebe dir mein Wort, daß ich keine Sendung über euch mache.«

Am folgenden Morgen zog Dana aus ihrem Zimmer im Holi-day Inn aus. Als sie nicht zum Frühstück erschien, erkundigte sich Gabriella Orsi vom italienischen Fernsehsender Altre Statione: »Wo ist Dana?«

»Sie ist fortgezogen«, erwiderte Roderick Munn. »Sie hat ein Bauernhaus gemietet. Weil sie für sich allein sein will, hat sie gesagt.«

»Wir würden alle gern für uns allein sein«, kommentierte Nikolai Petrowitsch, der Korrespondent des russischen Kanals Gorizont 22. »Soll das vielleicht heißen, daß wir ihr nicht mehr gut genug sind?«

Es machte sich eine allgemeine Mißbilligung breit.