Am folgenden Nachmittag traf schon wieder ein großes Ca-repaket für Dana im Hotel ein.
»Da sie nicht anwesend ist«, meinte Nikolai Petrowitsch, »sollten wir es uns schmecken lassen, oder?«
»Bedaure«, erklärte der Hotelangestellte, »aber das Paket für Miss Evans wird abgeholt.«
Wenige Minuten später kam Kemal ins Hotel, nahm das Paket an sich und verschwand. Die Reporter schauten ihm mit großen Augen nach.
»Sie will sogar nicht mehr mit uns teilen«, brummte Juan Santos. »Ich fürchte, die Berühmtheit ist ihr zu Kopf gestiegen.«
Während der folgenden Woche sendete Dana ihre Berichte, ohne wieder im Hotel zu erscheinen, und unter den Kollegen wuchsen die Ressentiments gegen sie.
Dana wurde zum Hauptgesprächsthema der Runde. Als ein paar Tage später wiederum ein Carepaket - ein riesiges Paket diesmal - im Hotel eintraf, ging Nikolai Petrowitsch, der den Eingang beobachtet hatte, zur Rezeption und erkundigte sich: »Läßt Miss Evans das Paket abholen?«
»Jawohl, Sir.«
Der Russe eilte in den Speisesaal. »Für Dana ist ein weiteres
Paket angekommen«, rief er, »und es wird wieder abgeholt. Warum fahren wir nicht hinter dem Boten her, um Miss Evans unsere Meinung über Auslandskorrespondenten ins Gesicht zu sagen, die sich für besser als die Kollegen halten?«
Allgemeine Zustimmung.
Als Kemal erschien, um das Paket abzuholen, wollte Nikolai von ihm wissen: »Bringst du das zu Miss Evans?«
Kemal nickte.
»Sie hat darum gebeten, daß wir zu ihr kommen und mit ihr sprechen. Wir begleiten dich.«
Kemal musterte ihn kurz und zuckte dann die Achseln.
»Wir nehmen dich in einem von unseren Autos mit«, erklärte Nikolai Petrowitsch. »Du zeigst uns den Weg.«
Zehn Minuten später fuhr eine Autokarawane durch menschenleere Nebenstraßen. Am Stadtrand zeigte Kemal mit dem Finger auf ein altes, ausgebombtes Bauernhaus. Die Wagen hielten an.
»Geh voraus und bring ihr das Paket«, befahl Nikolai. »Wir wollen Dana überraschen.«
Sie schauten Kemal nach, bis er im Bauernhaus verschwand, warteten einen Augenblick, schlichen zum Eingang, stürmten durch die Tür - und blieben wie angewurzelt stehen. In dem Raum saßen Kinder aller Altersgruppen, Größen und Hautfarben. Die meisten waren Krüppel. An den Wänden reihte sich ein Dutzend Feldbetten. Als die Tür aufgestoßen wurde, war Dana gerade damit beschäftigt, den Inhalt des Carepakets an die Kinder zu verteilen. Sie hob erstaunt den Kopf, als die Gruppe hereinstürmte.
»Was . was haben Sie hier zu suchen?«
Roderick Munn schaute sich betreten um. »Ich bitte um Entschuldigung, Dana. Wir haben einen ... wir haben einen Fehler gemacht. Wir dachten .«
Dana wandte sich den Männern zu. »Ich verstehe. Die Kinder, die Sie hier vor sich sehen, sind Waisenkinder. Sie haben kein Zuhause und niemanden, der für sie sorgt. Die meisten von ihnen befanden sich in einem Krankenhaus, als es bombardiert wurde. Wenn die Polizei die Kinder findet, werden sie in sogenannte Waisenhäuser gesteckt - und sterben. Wenn sie hier bleiben, werden sie ebenfalls sterben. Ich habe verzweifelt darüber nachgedacht, ob es eine Möglichkeit gibt, sie außer Landes zu schaffen. Bisher hat sich jedoch leider noch kein Weg gefunden.« Sie schaute die Gruppe ihrer Kollegen flehentlich an. »Haben Sie vielleicht irgendeine Idee, was sich da machen ließe?«
»Ich glaube«, erwiderte Roderick Munn langsam, »daß ich einen Weg wüßte. In dieser Nacht fliegt eine Maschine des Roten Kreuzes nach Paris ab. Der Pilot ist ein Freund von mir.«
»Würden Sie mit ihm reden?« fragte Dana hoffnungsvoll.
Munn nickte. »Ja.«
»Moment mal!« rief Nikolai Petrowitsch. »Wir können uns unmöglich in solche Geschichten hineinziehen lassen. Man wird uns alle miteinander des Landes verweisen.«
»Sie müssen ja nicht mitmachen«, beruhigte ihn Munn. »Wir machen das schon.«
»Ich bin dagegen«, sagte Nikolai dickköpfig. »Die Sache wird uns alle in Gefahr bringen.«
»Und die Kinder?« fragte Dana. »Für sie geht es hier schließlich um Leben oder Tod.«
Am späten Nachmittag kam Roderick Munn zu Dana herausgefahren. »Ich habe mit meinem Freund gesprochen. Er hat mir erklärt, daß er gern bereit ist, die Kinder nach Paris zu bringen, damit sie in Sicherheit sind. Er hat daheim selber zwei Buben.«
Dana jubelte. »Das ist ja wunderbar. Ich danke Ihnen von Herzen.«
Munn schaute ihr in die Augen. »Es ist umgekehrt: Wir haben Ihnen zu danken.«
Um acht Uhr abends fuhr ein Lieferwagen mit den Insignien des Roten Kreuzes vor dem Bauernhof vor. Auf ein Blinkzeichen mit den Scheinwerfern eilte Dana mit den Kindern im Schutz der Dunkelheit in den Lieferwagen.
Eine Viertelstunde später rollte er dem Flughafen Butmir entgegen, der vorübergehend geschlossen worden war - außer für Maschinen des Roten Kreuzes, die Vorräte brachten und Schwerverletzte ausflogen. Dana schien es die längste Fahrt ihres Lebens zu sein. Als sie die Flughafenlichter vor sich sah, sagte sie den Kindern: »Jetzt sind wir fast angekommen.« Kemal drückte ihre Hand.
»Es wird dir gutgehen«, versicherte ihm Dana. »Man wird für euch alle sorgen«, und dachte im stillen: Ich werde euch vermissen.
Im Flughafen winkte ein Wachtposten den Lieferwagen durch, der dann zu einem Frachtflugzeug mit dem Emblem des Roten Kreuzes auf dem Rumpf weiterfuhr. Der Pilot wartete draußen neben der Maschine.
Er kam Dana entgegengelaufen. »Um Gottes willen, Sie haben sich verspätet. Bringen Sie die Kinder an Bord, aber schnell. Wir hätten bereits vor zwanzig Minuten starten müssen.«
Dana trieb die Kinder die Gangway hoch und ins Flugzeug hinein. Kemal kam ganz zuletzt.
Er drehte sich zu Dana um; ihm zitterten die Lippen. »Werde ich Sie wiedersehen?«
»Darauf kannst du wetten«, versprach Dana. Sie nahm ihn in den Arm und drückte ihn ganz fest an sich, während sie ein stilles Gebet sprach. »Und jetzt steig ein.«
Wenige Augenblicke später wurde die Tür verschlossen. Die Motoren heulten auf, und das Flugzeug begann über die Piste zu rollen.
Dana und Munn starrten der Maschine hinterher, bis sie sich am Ende der Laufbahn in die Luft erhob, in den östlichen
Himmel aufstieg und dann in nördlicher Richtung nach Paris abdrehte.
»Was Sie da getan haben, verdient Bewunderung«, sagte der Fahrer des Roten Kreuzes leise. »Ich darf Ihnen versichern .«
In dem Moment kam hinter ihnen ein Wagen mit quietschenden Reifen zum Stehen. Als der Fahrer, Munn und Dana sich umdrehten, sahen sie Oberst Gordan Divjak aus dem Wagen springen. Er sah zum Himmel, wo das Flugzeug gerade den Blicken entschwand. An der Seite des serbischen Oberst stand der russische Journalist Nikolai Petrowitsch.
Oberst Divjak trat auf Dana zu. »Sie sind verhaftet. Ich hatte Sie gewarnt: Auf Spionage steht bei uns die Todesstrafe.«
»Oberst«, sagte Dana, nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, »falls Sie mir einen Prozeß wegen Spionage machen .«
Er sah Dana fest in die Augen und sagte leise: »Wer hat denn von einem Prozeß gesprochen?«
13
Die Festlichkeiten der Amtseinführung, die Paraden und die feierliche Vereidigung waren vorbei. Oliver brannte darauf, seine Amtstätigkeit als Präsident der Vereinigten Staaten aufzunehmen. Washington, D.C., war wahrscheinlich die einzige Stadt, die ausschließlich dem politischen Leben diente und von der Politik besessen war. Washington war das Machtzentrum der Welt und Oliver der Mittelpunkt dieses Machtzentrums. Es war ganz so, als ob hier auf die eine oder andere Weise jedermann mit der Bundesregierung in Beziehung stand. Im zentralen Bereich Washingtons waren fünfzehntausend Lobbyisten und über fünftausend Journalisten tätig, die sich allesamt von der Muttermilch der Regierung ernährten. Oliver kam das hinterhältige Diktum John F. Kennedys in Erinnerung: »Washington, D.C., ist eine Stadt mit der Effizienz der Südstaaten und dem Charme des Nordens.«